Digitalisiertes Bleistift-Gekritzel

Elektronisch oder traditionell? Die Editionswissenschaft ist von neuen Kommunikationsformen und der globalen Vernetzung herausgefordert. Rund 80 internationale Forschende diskutieren die Entwicklungen an einer Tagung in Bern.

Von Matthias Meier 17. Februar 2012

Ist es eine Geheimschrift oder wirklich verständliches Deutsch? Der Text ist kaum zu entziffern, die mit Bleistift geschriebenen Buchstaben sind knapp zwei Millimeter gross. Die Schrift ist extrem verdichtet, auf dem Papier von 15,3 auf 10,4 Zentimetern Fläche stehen sieben Textentwürfe für Prosastücke, die der Schweizer Schriftsteller Robert Walser 1932 während seinem Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Waldau verfasst hat.

Geheimschrift
Eine Geheimschrift? Beim Entziffern von Robert Walsers Mikrogrammen ist eine Lupe unabdingbar. Bilder: Wolfram Groddeck

Das beschriebene Blatt Papier gehört zu den so genannten «Mikrogrammen», zu denen über 500 solcher handgeschriebenen Blätter von Robert Walser gezählt werden. Diese eigenwilligen Textbilder stellen Editionswissenschaftler vor grosse Herausforderungen: «Einerseits transportieren die Texte literarische Inhalte, andererseits werden diese speziellen Schriftbilder aber auch als Kunstwerke bewundert und haben einen bildnerisch-ästhetischen Wert», erklärt Wolfram Groddeck, Projektleiter der derzeit entstehenden «Kritischen Robert Walser-Ausgabe». Wie ist es also möglich, die Inhalte lesbar wiederzugeben und gleichzeitig die künstlerische Darstellung beizubehalten? Das war Thema an der wissenschaftlichen Tagung «InterNationalität und InterDisziplinarität der Editionswissenschaft», die das Institut für Germanistik der Uni Bern vom 15. bis 18. Februar organisiert hat.

Globale Vernetzung als Herausforderung

Die Editionswissenschaft ist heute zunehmend interdisziplinär gefordert. Das Beispiel der Edition von Robert Walsers Mikrogrammen verdeutlicht etwa die Schwierigkeit, literarische und bildnerische Aspekte eines Nachlasses zu vereinen. Editorische Ansätze verschiedener Disziplinen berühren und vermischen sich heute zunehmend. Grund dafür sind neue Kommunikationsformen sowie ein einfacherer und globaler Austausch von Wissen. Im Rahmen der Tagung diskutieren rund 80 internationale Forschende über die aktuellen Entwicklungen in der Editionswissenschaft.

Schrift auf einem Blatt
Eindrückliche Vielfalt: Hier schrieb Walser auf die Blätter eines Kalenders.

Die Zukunft liegt im digitalen Edieren

In seinem Eröffnungsvortrag sprach der Berliner Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn über seine Erfahrungen im Editieren von Werken berühmter Naturwissenschaftler – etwa den Manuskripten von Galileo oder Albert Einsteins Forschungsnotizen. «Die Aufarbeitung von Quellen in der Wissenschaftsgeschichte war in traditionellen Editionsverfahren sehr komplex», erläutert Jürgen Renn. «Neue Technologien, insbesondere das Internet, ermöglichen heute aber einen viel breiteren Zugang zu historischen Daten als gedruckte Bücher.» Das Internet biete zudem einer grösseren Anzahl Menschen Zugang zu den Daten: So könnten sich einerseits mehr Menschen bestehendes Wissen verschaffen, andererseits aber auch weltweit mehr Forscher beim Editieren helfen. In webbasierten Forschungs-Bibliotheken können gemäss Renn Originale und Transkriptionen einfacher in verschiedenen Sprachen abgebildet und ständig ergänzt werden. «Durch die Möglichkeit auf weitere Daten zu verlinken, kann in der Zukunft ein weltweites und multimediales Netz entstehen», so der Wissenschaftshistoriker.

Bücher und CDs
Ist die elektronische Edition in Zukunft Standard? Hier erste Bände der Kritischen Robert Walser-Ausgabe mit CD-Rom.

Surfen im Text

Wie sieht nun die Lösung für die Edition von Walsers Mikrogrammen aus? Wolfram Groddeck von der Uni Zürich und sein Team von Editionswissenschaftlern haben sich für einen Kompromiss entschieden: Ihre Ausgabe der Mikrogramme wird das Textbild mit den Bleistiftkritzeleien erhalten, die Schrift bleibt also auch in der Neuedition sehr klein, denn der Text wird kongruent zu den Originalen nachgebildet. Dank dem Transkribieren in die Druckschrift wird der Text aber besser lesbar sein. «Neben der gedruckten Buchform wird die Kritische Robert Walser-Ausgabe ausserdem von einer elektronischen Edition begleitet», erklärt Groddeck, «so wird es möglich sein, dass die Leserin und der Leser in den Texten Walsers surfen und die Schrift vergrössern kann».

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