«Die entzauberte Insel»
Ein Essay zu einer Sommererzählung von Meinrad Inglin. Er bildet den Abschluss der diesjährigen Sommerserie von «uniaktuell».
«Die Hochsommerschwüle hielt an, die Mücken tanzten, die Fische sprangen, und abends pflügte schon manchmal ein Gewitterwind schäumende Furchen auf. Kurz nach Mittag aber lag der See noch glatt und friedlich da […].» Vor der symbolträchtigen Kulisse einer friedlich-paradiesischen Anglerinsel, früh- bis spätsommerlichen Wetterlagen nebst dräuenden Gewittern entfaltet sich die Handlung der Adoleszenserzählung des Schwyzer Schriftstellers Meinrad Inglin (1893–1971).
Neben dem Roman «Schweizerspiegel», der Erzählung «Der schwarze Tanner» und den späten Romanen schuf Inglin ein heute kaum bekanntes Erzählwerk, welches durch expressionistische Stilelemente und Motive, durch Übergänge zu Mythen und Sagen und einen teils dichten Symbolismus geprägt ist. Auch der Erzählband «Güldramont» (1943), in welchem «Die entzauberte Insel» erschien, gehört mit «Über den Wassern» und «Güldramont» in diesen Bereich seines Schaffens. In der Erzählung «Güldramont» erhält eine aus der Welt der Eltern ausbrechende Knabengruppe bei einer sommerlichen Bergwanderung die Initiation vermittelt durch den fast exotischen Geist einer mythisch aufgeladenen Landschaft. Gewachsene Heimatbindungen, die Bestimmung der Gegenwart durch die Mythen der Vergangenheit und die Bestimmung des Menschen durch Vernunft und Trieb stellt Inglin einem als ungenügend empfundenen Vernunftliberalismus der Schweiz gegenüber. Gegen die eigene Verführbarkeit durch zivilisationskritische und teils völkische Ideologeme ringt er sich aber schliesslich ein staatsbürgerliches Bekenntnis im «Schweizerspiegel» ab.
Idylle am Bergsee. (bild: istock)
Die Mythen der Schweiz zeigen ebenso wie die pubertären Leidenschaftskrisen der Jugendlichen die Notwendigkeit, dass sich Irrationales nicht aus der Zivilisation verdrängen lässt. Das Bewusstwerden der eigenen Natur verstört auch die Jungen der Erzählung «Die entzauberte Insel». Während der strahlende Sommerhimmel, der über der friedlichen Knabentrauminsel schwebt, noch von naiver Jugend zeugt, wünschen die Knaben selbst die Gewitter herbei, die ihnen einen besseren Fischfang verheissen. Denn nicht die Sehnsucht nach Idylle treibt sie an, sondern eine frühmännliche Sehnsucht nach Jagd.
Während das Bewusstsein der Knaben die Gewitternähe freilich mit dem Fischfang assoziiert, verbindet der Erzähler die Beschreibung der ersten Gewitterzeichen mit der Ankunft Ilses, dem Stadtmädchen im engen – die Unschuld der Knaben verstörenden – Badedress. Die ungewohnte körperliche Präsenz des Stadtmädchens bringt die Harmonie aus Jungen und Inselnatur ins Wanken und weckt die Urkräfte von Begierde, Rivalität und Eifersucht. Symbolisiert wird dieser Verlust der Knabenunschuld im biblischen Bild der Schlange, die die Knaben als Inselheilige verehrt hatten und die nun dem Schlangen fürchtenden Stadtmädchen weichen muss: Einer der Knaben erschlägt sie. Die Schlange freilich ist nicht Symbol der Verführung und als harmlose Natter nicht Symbol einer Gefahr. Ihre Unschuld verlieren die Knaben durch die irrationalen Kräfte ihrer eigenen Natur.
Christian von Zimmermann. (Bild:hse.ch)
Das Paradies der Insel wird wieder geheilt. Das geläuterte Bewusstsein der «Jünglinge» ermöglicht es, auf die Insel zurückzukehren und bis zum ersten Herbsttag weiter zu fischen. Der erfahrene Mensch ist sich der in den Mythen bewahrten und in der Adoleszenz erlebten irrationalen Kräfte der eigenen Natur bewusst.
Die Zerrissenheit der Inselbewohner angesichts der von aussen auf die inneren Verhältnisse wirkenden Krisen hat Inglin auch zum Thema des «Schweizerspiegels» gemacht. Die Knaben, welche die heilige Unschuld des Paradieses verletzen, erscheinen den widerstreitenden politischen Kräften in der Schweiz in der ‘Inselsituation’ der Weltkriege zur Seite gestellt. Die anthropologisch durch den Hinweis auf die Triebnatur gewappnete Vernunftethik der Inselerzählung verweist dadurch auch auf die politische Ethik der Geistigen Landesverteidigung: im Wunsch, die entzauberte Schweiz zu versöhnen.
Zur Person:
PD Dr. Christian von Zimmermann arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literarische Anthropologie, Biographisches Schreiben, Editionsphilologie und Neuere Schweizer Literatur.