Nicht alle haben die gleiche Chance auf Bildung

Das Tor zur Bildung steht nicht allen gleich weit offen. Das lässt sich aber nicht nur durch (mangelndes) Talent erklären, sagt Rolf Becker vom Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Bern. Er ist Mitorganisator des Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung zu «Bildungsungleichheit und Gerechtigkeit».

Interview: Bettina Jakob 27. Juni 2012

uniaktuell: Eine gute Bildung verspricht eine gute Zukunft. Warum ist Bildung so wichtig?
Rolf Becker: Für die Menschen in modernen Gesellschaften ist Bildung eine wichtige Voraussetzung für ihre soziale Integration. Ohne Grundfähigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie Kenntnisse über Zusammenhänge in der Gesellschaft können Menschen nicht aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilnehmen.

Inwiefern?
Ohne zertifizierte Bildung haben sie etwa äusserst geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt und sind in ihren Lebenschancen benachteiligt: Sie werden auch erfolglos sein auf dem Wohnungs- und Partnerschaftsmarkt; sie werden kein Einkommen erzielen und nicht an der Wohlfahrt teilhaben können. Sie werden eine ungesündere Lebensführung, schlechtere Gesundheitsversorgung haben und auch eine geringere Lebenserwartung.

Studentin
Die Tür zum Uni-Seminar ist nicht für alle gleich weit offen. Bild: AK

Das sind alles äussere Werte – was bringt Bildung für das Innere?
Bildung hat auch einen Selbstwert, der zur Lebenszufriedenheit, zum Selbstwertgefühl und zur persönlichen Entwicklung beiträgt. Denn Bildung ist nicht nur Humankapital, sondern auch ein Bestandteil des Humanvermögens. Bildungsarme hingegen haben so gut wie kein Kapital für eine gute Zukunft und für ein gutes Leben.

Man kann also sagen: Je gebildeter, desto besser die Zukunftsaussichten.
Ja, und je früher in die Bildung der Kinder investiert wird, – also noch vor ihrer Einschulung –, desto besser sind ihre Zukunftsaussichten.

Der einzelne gut Gebildete profitiert also – und die Gesellschaft?
Investitionen in kommende Generationen kommen auch der Allgemeinheit zugute. Gut gebildete Personen sind in der Regel Beitragszahlerinnen statt nur Konsumenten der Sozialsicherungssysteme. Sie werden seltener arbeitslos oder krank. Bildungsökonomen behaupten, dass mit zunehmendem Bildungsstand in der Bevölkerung nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung angestossen wird, sondern auch negative Entwicklungen wie etwa steigende Kriminalität vermieden werden können. Die empirischen Ergebnisse sind da aber sehr widersprüchlich.

Weshalb?
Weil gerade gut gebildete Personen sehr erfolgreich Straftaten ausführen, die im Unterschied zu einem Bankraub oder Autodiebstahl seltener entdeckt und aufgeklärt werden – wie etwa Steuerhinterziehung, Erschleichen staatlicher Subventionen, Veruntreuung von Vermögen oder anderer Formen der Wirtschaftskriminalität. Trotz alledem dürften die positiven Auswirkungen von Bildung für alle dominieren.

Porträt von Rolf Becker
«Kinder und Jugendliche aus unteren Sozialschichten haben die schlechtesten Chancen»: Rolf Becker von der Uni Bern. Bild: zvg

Folglich sollte die Gesellschaft daran interessiert sein, dass alle eine gute Bildung erhalten. Doch gibt sie nicht allen die gleichen Chancen. Wie dramatisch ist diese Ungleichheit in der Schweiz?
In der Pisa-Studie gehört die Schweiz zu den Ländern, in denen der Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Lage des Elternhauses und den Lesekompetenzen sehr hoch ist – sie lag diesbezüglich auf dem dritten Rang. Gut ein Fünftel der Jugendlichen sind sogenannte funktionale Analphabeten, leiden also an Kompetenz- und Bildungsarmut. Im europäischen Vergleich ist die Bildungsungleichheit in der Schweiz relativ ausgeprägt, hat sich aber etwas abgeschwächt. Dass es aber Gruppen gibt, die über keine Bildung verfügen, ist immer als dramatisch anzusehen. Es ist ein Zeichen, dass der Staat seinen Bildungsauftrag nicht erfüllt, und diese Personen ihr Recht auf Bildung nicht verwirklichen können.

Wer hat hier die schlechtesten Chancen und warum?
Die schlechtesten Chancen haben die Kinder und Jugendlichen, deren Eltern über wenige Möglichkeiten verfügen, um sie bei den schulischen Angelegenheiten und auf dem Bildungsweg unterstützen zu können. Das sind Kinder und Jugendliche aus unteren Sozialschichten, die über wenig Bildung und Einkommen verfügen. Denen sind die Welten der höheren Bildung wie etwa die Universität sehr fremd.

Und die Kinder aus Migrationsfamilien?
Diese befinden sich auch darunter. Wir wissen aber auch, dass viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sehr erfolgreich im Schweizer Bildungssystem sind. Allerdings nur, wenn sie über die bildungsrelevanten Ressourcen verfügen, so dass sie ihren Wunsch nach Bildung auch realisieren können. So haben etwa die Immigranten aus den deutschsprachigen Nachbarländern nicht unerheblich dazu beigetragen, dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Maturanden- und Akademikerquote in der Schweiz angestiegen ist.

Noch immer wird moniert, in Schulklassen mit hohem Ausländeranteil sei das Niveau tiefer – was gemäss einer Studie aus Ihrem Institut nicht stimmt. Warum hält sich dieses Vorurteil so hartnäckig?
Das ist zunächst kein Vorurteil, sondern eher Ausdruck von theoretisch wie methodisch problematischen Studien. Nicht der Ausländeranteil an sich spielt eine Rolle – aber er kann als  Spezialfall des Kausalzusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungschancen ins Gewicht fallen. Entscheidend ist nämlich die Sozialstruktur der Schulklasse. Ein Vorurteil ist es vielmehr, wenn Eltern den aus ihrer Sicht hohen Ausländeranteil als Argument anführen, dass ihr Kind eben nicht diese Schule besucht, weil es angeblich dann unterfordert wäre.

Wie sieht die Chancengleichheit bei den Geschlechtern aus? Haben Mädchen schlechtere Möglichkeiten?
Das war in der Vergangenheit so – als die Kunstfigur des katholischen Arbeitermädchens auf dem Lande die Diskussion um Bildung bestimmte. In der Zwischenzeit haben die Mädchen und Frauen in Sachen Bildungserwerb nicht nur mit den Knaben und Männern gleichgezogen, sondern überholt. Worauf dieser Wandel beruht, ist noch nicht eindeutig geklärt.

Aber ein Ungleichgewicht zeigt sich im Berufsfeld und zwar bis hinauf zu den Uni-Absolventinnen: Promovierte Frauen sind seltener in Kaderstellen anzutreffen als ihre männlichen Kollegen. Das ist nicht logisch.
In der Tat haben sich die Vorteile von Frauen im Bildungssystem noch nicht auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Auf dem Arbeitsmarkt bestimmen neben den Bildungspatenten auch leistungsfremde Kriterien die Auswahl von Arbeitskräften. Aber im universitären Bereich gibt es unübersehbare Anzeichen dafür, dass sich Nachteile von Frauen – auch nach der Promotion – verringern.

Gibt es einen Ansatz, der in der Schweiz, aber auch weltweit die Schere schliessen könnte? Was würden Sie tun, wenn Sie zaubern könnten?
Vor allem die soziale Ungleichheit ausserhalb des Bildungssystems bringt die sozial bedingte Ungleichheit von Bildungschancen hervor. Gerade dann, wenn das Bildungssystem so strukturiert ist, dass diese soziale Ungleichheit eher noch erhalten als kompensiert wird. Es ist schon viel geholfen, wenn Bildung nicht ein Privileg für einige ist, sondern jeder Mensch Bildung als Recht in Anspruch nehmen kann. Das Ziel «Bildung für alle» bedarf nicht nur der Bildungspolitik – sondern einer umfassenden Sozial- und Gesellschaftspolitik.

Wenn Ihre Ideen fruchten würden, welchen Gewinn brächten sie für die Weltbevölkerung mit?
Das weiss ich nicht – für die «beste aller Welten» reicht meine Phantasie nicht aus.

Zum Kongress

pd. Das Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Bern organisiert im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (SGBF) einen Kongress zu Bildungsungleichheiten und Gerechtigkeit. Er findet vom 2. bis 4. Juli 2012 an der Uni Bern statt und hat sowohl den wissenschaftlichen Austausch als auch die Diskussion bildungspolitischer und schulpraktischer Aspekte zum Ziel.