Gewänder erzählen biblische Geschichten

Wandbehänge, Fahnen, Teppiche, Altarbehänge und – nicht zu vergessen – die Kleidung der Geistlichen: Im Mittelalter waren die Kirchen reich mit Textilien geschmückt. Die neue Ausstellung der Abegg-Stiftung erlaubt einen Blick in eine besondere Kunst.

Von Bettina Jakob 26. April 2012

Der Engel Gabriel erscheint der Jungfrau Maria – in Riggisberg: Auf einem wundervollen und bildgewaltigen Wandbehang aus der Zeit um 1500 ist in Grossformat die Verkündigung gewoben. Dieses biblische Ereignis ist ein sehr häufig verwendetes Motiv in der sakralen Textilkunst, wie die Abegg-Stiftung mitteilt. Die Stiftung, deren Interesse und Engagement der Erforschung und Bewahrung alter Textilien gilt, lädt zur neuen Sonderausstellung «Ornamenta – Textile Bildkunst des Mittelalters» ein. Die Abegg-Stiftung unterhält auch einen Lehrstuhl für «Geschichte der textilen Künste» am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. Die neue Ausstellung dauert vom 29. April bis zum 11. November.


Bildgewaltiges für die Wand: Ausschnitt einer Tapisserie mit Verkündigung an Maria aus der Zeit um 1500. (Bilder: Christoph von Viràg/Abegg-Stiftung)

Das passende Gewand zu jedem Fest

Im neu umgebauten Museum werden Textilien des 13. bis 16. Jahrhunderts präsentiert, die einst in Kirchen oder Kapellen gezeigt oder getragen wurden. Diese dienten nicht etwa nur der Zierde: «Mit ihren Farben und vor allem mit ihren figürlichen Darstellungen nahmen sie Bezug auf die Ereignisse, die im Verlauf eines Kirchenjahres gefeiert wurden», schreiben die Ausstellungs-Verantwortlichen. Im Gegensatz zu Gemälden und Skulpturen konnte der textile Schmuck in einer Kirche nach Wunsch ausgewechselt werden; es gab für jede Festzeit wie Weihnachten, Pfingsten, Ostern und für die Zeit dazwischen eine passende textile Ausstattung und Priesterkleidung.

Das Leben Christi auf Gewändern

Die gewebten oder gestickten Bilder sind oft sehr anschaulich und szenisch umgesetzt. Sie erzählen aus dem Leben Jesu Christi – von seinen Vorfahren über seine Kindheits- und Passionsgeschichte bis hin zu den Aposteln. So ist in der Ausstellung etwa ein Gewand mit einer Stickerei zu sehen, die Joseph mit geschultertem Bündel zeigt, der seine schwangere Verlobte Maria verlassen will. Der über Maria erscheinende Engel überzeugt ihn, bei ihr zu bleiben. Das so verzierte Gewand stammt aus England und wurde am Anfang des 15. Jahrhunderts in der Weihnachtszeit getragen.


Szene eines Messgewandbesatzes: Joseph, der von seiner Verlobten Maria weggehen will.

Auch theologische Konzepte wie die Wandlung von Brot und Wein in Jesu Christi Leib und Blut wurden gemäss den Ausstellungsmachern mit textilen Techniken bildlich umgesetzt: In Erinnerung an den Opfertod Christi sind Messgewänder mit dem Bild der Kreuzigung versehen, wo Engel das Blut des Gekreuzigten in einem Kelch auffangen.

Viel Liebe zum Detail

Grossformatige Textilien waren für alle Kirchgängerinnen und Kirchgänger sichtbar, die eher kleinen Darstellungen auf den Besätzen liturgischer Gewänder nur aus der Nähe. Bei einem genauen Blick erschliesst sich den Besuchenden in Riggisberg in den gestickten Szenen eine feine und detailliert herausgeschaffene Welt mit individuell gestalteten Gesichtern und eindrucksvollen Spezialeffekten wie etwa ein wirbelförmiger Goldgrund.

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