Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel

Zur Schweizer Delegation an der UNO-Konferenz über Nachhaltige Entwicklung Rio+20 gehört auch der Berner Geografieprofessor Hans Hurni. Seine Erwartungen auf einen Durchbruch sind gedämpft; seine Hoffnungen richten sich auf die informellen Diskussionen.

Interview: Marcus Moser 13. Juni 2012

Hans Hurni – wenige Tage vor dem Umweltgipfel in Rio habe ich nicht den Eindruck, dass die Grossveranstaltung im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen ist.
Hans Hurni: Ich habe vor einer Woche 150 Studierende zu Rio+20 befragt: Etwa zehn wussten, worum es bei dieser Konferenz geht. Nein, die Konferenz und ihre Inhalte sind noch nicht in den Köpfen angekommen.

Wie beschreiben Sie den Inhalt?
Rio+20 ist das Bekenntnis, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben und dass wir Wege finden müssen, diese Welt nachhaltig zu gestalten.


Tritt ein für Nachhaltige Entwicklung: Hans Hurni von der Universität Bern

Wenige Tage vor Konferenzbeginn herrscht aber auch in den involvierten Milieus kein Enthusiasmus. Erwartungshaltungen werden tief gehalten. Droht ein Maxi-Gipfel für Mini-Ergebnisse?
Wenn Sie Ergebnisse im Sinne von Abkommen erwarten, wird nicht viel resultieren. Nicht unterschätzen darf man aber die Tatsache, dass die Regierungen die Konferenz seit einem Jahr vorbereiten. Die Euphorie von vor zwanzig Jahren ist aber der Vorsicht gewichen. Die aktuelle Schuldenkrise steht generationenübergreifenden Selbstverpflichtungen im Wege.

US-Präsident Obama, Kanzlerin Merkel, Premierminister Cameron – sie alle haben bereits abgewunken und werden nicht persönlich erscheinen.
Das ist bedauerlich. Es zeigt auch, dass an diese Personen Forderungen der vertretenen 130 Länder herangetragen werden, die sie nicht erfüllen können. Jedenfalls nicht, wenn sie ihre politische Position behalten wollen. Vielleicht ist es unter diesen Umständen besser, wenn sie persönlich nicht erscheinen; sie müssen dann auch nichts explizit ablehnen. An den Verhandlungen sind ihre Delegationen indes beteiligt.

Der Gipfel steht unter dem Motto: «Zukunft, die wir wollen». Die Vorbereitungskonferenzen zeigen: jeder will etwas anderes.
Eine nachhaltigere Zukunft wollen alle. Uneinigkeit besteht über den Weg, um zu diesem Ziel zu gelangen. Eine kleine Zahl wohlhabender Industrieländer trifft auf eine grosse Zahl armer Länder. Und dazwischen sind Transitionsländer wie China, Indien, Russland oder Brasilien, die sich je nach Interessenlage auf die eine oder auf die andere Seite stellen. Monsterkonferenzen wie Rio+20 sind nötig, um das gemeinsame Verständnis von armen und reichen Ländern etwas voran zu treiben.


«Auch informelle Diskussionen sind wichtig». Hans Hurni, Mitglied der Schweizer Delegation (Bilder: Manu Friederich)

Die Delegation der Schweiz favorisiert vier Punkte. Erstes Stichwort: Grüne Ökonomie. Dagegen kann niemand was haben – und doch gibt es Widerstand.
Die armen Länder wollen wirtschaftlich aufholen. Das tun sie häufig mit Technologien, die nicht umweltverträglich sind. China ist ein Musterbeispiel hierfür. In der Frage der Grünen Ökonomie solidarisieren sich die Transitionsländer in der Folge häufig mit den armen Ländern – gegen die Forderungen der Industrienationen.

Zweites Stichwort: Ausarbeitung nachhaltiger Entwicklungsziele bis 2015. Hier befürchten insbesondere die ärmsten Länder, dass durch solche Ziele der Fokus von der Armutsbekämpfung auf den Umweltschutz verlagert werden könnte.
Diese Angst ist für mich nachvollziehbar. Die Milleniumziele sollten ja bis 2015 umgesetzt werden. In vielen Aspekten sind wir davon weit entfernt. Eine Milliarde Menschen leben weiterhin unterhalb der Armutsgrenze. Damit hat sich die absolute Zahl armer Menschen nicht verändert, allerdings ist die Menschheit deutlich stärker gewachsen. Die Milleniumziele behalten ihre Gültigkeit. Gleichzeitig wächst die Bereitschaft, die soziale Dimension der Nachhaltigkeit um eine ökologische und eine ökonomischen Dimension zu ergänzen. Aber die Priorisierungen sind unterschiedlich. 

Drittes Stichwort: Stärkung der UN-Institutionen. Die UNO hat keine Umweltorganisation, sondern «nur» ein Umweltprogramm mit Sitz in Nairobi. Jetzt wird ein Rat für Nachhaltige Entwicklung gefordert.
Ich bin da zwiespältig: Die UNO hat meiner Ansicht nach als Institution eine Reform dringend nötig. Das Umweltprogramm ist längst zu einer Institution geworden und operiert wie eine Umweltorganisation. Ob aber ein Namenswechsel hinreichend wäre, um Nachhaltigkeit zu erreichen, ist eine andere Frage: Hier fehlen eben die obengenannten Dimensionen des Sozialen und des Ökonomischen. Und ob ein Nachhaltigkeitsrat eine Behörde oder eine Expertenorganisation sein soll, da gehen die Meinungen weiterhin auseinander. Ich selber bevorzuge eine politisch unabhängige Expertenorganisation.

Viertes Stichwort: Die Schweiz fordert die Festlegung konkreter Einzelmassnahmen, zum Beispiel in den Bereich Schutz der Meere, Artenvielfalt, Umgang mit Chemikalien.
In vielen dieser Punkte sind die Dossiers unterschriftsreif. Lassen wir uns überraschen: Vielleicht führt die Konferenzdynamik dazu, dass in diesen Einzelfragen Lösungen erzielt werden können, gerade weil die grossen Dossiers blockiert sind. Damit wäre dann auch gerechtfertigt, dass die Staats- und Regierungschefs nach Rio gefahren sind.

Das tönt alles nicht sehr zuversichtlich...
Der wichtigste Punkt, warum ich meine Teilnahme zugesagt habe, ist gerade die Möglichkeit, mit Gleichgesinnten und auch mit Nicht-Gleichgesinnten zu sprechen. Nehmen wir die Landwirtschaft: Wie könnte ein gemeinsamer Weg von Gross- und Kleinbetrieben aussehen? Die grösste Armut liegt derzeit bei Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Zu diesen Themen gibt es Spezialtreffen, in denen die Diskussionen weitergeführt werden können. 

Und wo sehen Sie die Rolle der Wissenschaft?
In unseren Ländern spielt die Wissensgesellschaft eine massgebliche Rolle. Leider haben entsprechende Formulierungen zur Förderung einer globalen Wissensgesellschaft in den Verhandlungstext keinen griffigen Eingang gefunden. In Rio werden auch einige Tausend Wissenschaftler erwartet. Da hoffe ich sehr darauf, dass fruchtbare Diskussionen geführt und Ideen entwickelt werden können.

Zur Person

Professor Hans Hurni, 62, präsidiert den Aussschuss des Centre for Development and Environment CDE der Universität Bern und ist Direktor des NCCR North-South. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Nachhaltigen Entwicklung hat Hans Hurni Felderfahrung in verschiedensten Ländern in Afrika und Asien sammeln können. Hurni ist Mitglied der Schweizer Rio+20-Delegation.

Zur Konferenz

Die Menschheit lebt und wirtschaftet nicht nachhaltig. Armut, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und Stabilität bleiben langfristig die grössten Herausforderungen. Die Konferenz vom 20. bis 22. Juni 2012 will auf höchster politischer Ebene das Engagement für die nachhaltige Entwicklung erneuern und verstärken.

Die Schweiz wird vertreten durch Bundespräsidentin Widmer-Schlumpf und Bundesrätin Leuthard. Die Schweizer Delegation besteht aus rund 50 Personen.

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