Was guckst Du?
Stress macht aufmerksam – aber ungenau: Das stellte der Berner Wahrnehmungspsychologe Janek Lobmaier fest. Das Stresshormon Cortisol hat ganz offensichtlich einen Einfluss, wie wir Blicke unserer Mitmenschen interpretieren.
Hatten Sie auch schon das mulmige Gefühl, das alle Sie anstarren? Etwa im Menschengewimmel am Bahnhof, wenn Sie auf den Zug eilen? Oder beim Apero nach einem Vortrag, den Sie endlich hinter sich gebracht haben? Seien Sie unbesorgt – das ist normal. Besonders wenn man unter Stress steht, hat man oftmals das Gefühl, beobachtet zu werden – selbst wenn dies gar nicht der Fall ist. Das hat der Berner Psychologe Janek Lobmaier zusammen mit seiner Kollegin Ulrike Rimmele von der New York University herausgefunden. Die Resultate sind nun im Journal «Psychoneuroendocrinology» publiziert.
Bei Stress versucht man alles im Auge zu behalten. (Bild: istock)
Mimik warnt uns vor
«Blickrichtung und Gesichtsausdruck sind wichtige Hinweise im sozialen Umgang», erklärt der Wahrnehmungspsychologe die Ausgangslage: Sie geben zwei Menschen darüber Auskunft, ob ihre Begegnung freundlich oder aggressiv verlaufen wird. Unser einzigartiges visuelles Wahrnehmungssystem ermöglicht es uns, innerhalb von Millisekunden zu erkennen, ob der Blick des Mannes an der Bushaltestelle uns gilt und schnellstens die Mimik des Gegenübers einzuschätzen, um uns allenfalls zu wappnen, falls er nicht Gutes im Sinn haben sollte.
«Fröhlich» gilt immer uns
Doch – und hier beginnt das Erstaunliche – stimmt unsere Einschätzung eben nicht immer: Janek Lobmaier hatte schon in früheren Studien bewiesen, dass man Blicke von fröhlichen Gesichtern vermehrt auf sich bezieht, «selbst wenn diese mit einer relativ grossen Abweichung an einem vorbei schauen», so der Psychologe. Im Gegensatz dazu werden Blicke einer wütend oder ängstlich aussehenden Person oft nicht persönlich genommen, selbst wenn sie einem direkt in die Augen schaut. Lobmaiers Erklärung für dieses Phänomen: Diese selbstgefällige Interpretation der Umwelt – die übrigens bei Männern häufiger auftritt als bei Frauen – ist gut fürs Selbstwertgefühl und hat durch Rückkoppelung auch einen positiven Effekt auf das Gesamtsystem: Ein Lächeln erntet ein Lächeln erntet ein Lächeln.
Wie im Experiment: fröhliches Gesicht mit drei Blickwinkeln mit den Abweichungen 4, 0 und 2 Grad. (Bild: zvg)
Stress macht uns auf alles gefasst
Unter Stress ist alles noch einmal anders, wie die Psychologen mit folgendem Experiment festgestellt haben: Testpersonen hielten drei Minuten lang die Hand in eisiges Wasser. Durch diesen körperlichen Stress produzierte das Hormonsystem vermehrt das Stresshormon Cortisol, was mit Speichelproben überprüft wurde. Den Testpersonen wurden anschliessend Gesichter mit verschiedenen Gefühlsausdrücken und mit unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Das Resultat: Die Gestressten bezogen nicht mehr nur die fröhlichen, sondern alle Blicke auf sich. Unabhängig von Blickwinkeln und Emotionen.
Dieses Ergebsnis verblüffte die Forschenden: Dass gestresste Testpersonen anders reagierten als Kontrollpersonen, welche ihre Hände nur in lauwarmes Wasser tauchten und ruhig blieben, hatten Lobmaier und Rimmele zwar erwartet: «Wir rechneten mit einer ausgeprägten Antwort auf wütende Gesichter, da wir davon ausgingen, dass Menschen unter Stress vor allem sensibel auf Gefahren reagieren würden.» Doch offenbar reagieren wir unter einem erhöhten Cortisolspiegel, welcher die Anspannung einer Person charakterisiert, relativ wahllos auf externe Stimuli – so als ob ein Freund auch Feind sein könnte: «Wir nehmen Irrtümer ganz offensichtlich in Kauf, münzen alle Blicke und alle Emotionen in diesen Blicken auf uns.»
Aufmerksamkeit vs. Genauigkeit
Evolutionsbiologisch macht dieses Verhalten bei genauerem Hinsehen durchaus Sinn: «Will man den kleinsten Schaden mit den kleinsten Konsequenzen haben, muss man einfach alles im Blick und im Griff haben», so Lobmaier. «Dies ist ein konservierter Mechanismus aus der Vorzeit, als der Säbelzahntiger das Leben des Neandertalers bedrohte.»
So bezieht noch heute ein gestresstes System äussere Stimuli und wie in dieser Studie soziale Reize auf sich – auch wenn diese Aufmerksamkeit schliesslich nicht immer Genauigkeit bedeutet. So ist es möglich, dass wir uns nach einem Referat beobachtet fühlen, auch wenn sich gar niemand mehr besonders für uns interessiert.