War Albert Schweitzer wirklich der grosse Doktor?

Sein humanitäres Engagement war gross und er wurde weltberühmt: Albert Schweitzer baute 1913 das Urwald-Spital Lambarene auf. War er nun vor allem Arzt oder eher Kolonialherr? Medizinhistoriker Hubert Steinke versucht ein Bild zu zeichnen, wie Schweitzer als Arzt gewesen sein könnte.

Von Bettina Jakob 25. April 2013

Erst studierte er Theologie und Philosophie. Ebenfalls Musik, und er spielte leidenschaftlich Orgel. Erst dann wurde er zum Arzt, als der er weltbekannt wurde: Albert Schweitzer, der vor genau hundert Jahren im westafrikanischen Gabun sein Urwaldspital Lambarene gründete. Das Collegium generale der Uni Bern erlaubt in seiner interdisziplinären Vorlesungsreihe einen Einblick in Schweitzers theologische und ethische Konzepte und in seine Beiträge aus dem Bereich der Musikwissenschaft und der Politologie.


Erst Theologe, Musiker – dann Arzt in Afrika: Albert Schweitzer in seinem Spital in Lambarene. (Bilder: Association Internationale Albert Schweitzer, AISL)

Und wie war Albert Schweitzer als Arzt? War der gebürtige Elsässer tatsächlich jener grosse Doktor, wie er meist stereotypisch positiv dargestellt wird – oder war er doch auch ein «narzisstischer Kolonialherr, der es verpasste, sein Spital zu modernisieren», wie seine Kritiker entgegen halten? Hubert Steinke vom Institut für Medizingeschichte der Uni Bern näherte sich Albert Schweitzer und seinem Wirken als Arzt an. Trotz vieler OP-Protokolle, Jahresberichte, umfassender Patientenkarten, unzähliger Fotos und 120 Notizbücher gebe es bislang keine wissenschaftlichen Auswertungen.

Der Anstoss für Afrika

Als unzufriedener Mann, der sich immer mehr am bürgerlichen und akademischen Leben stiess: In dieser mentalen Verfassung begann Albert Schweitzer sein Medizinstudium mit 30 Jahren. Der Theologe und Philosoph kritisierte die auf materiellen Reichtum und Fortschritt ausgerichtete westliche Gesellschaft und schrieb 1905 an seine spätere Frau Helene Bresslau: «Ich will mich aus diesem bürgerlichen Leben befreien, das alles in mir töten würde, ich will leben, als Jünger Jesu etwas tun.» Der entscheidende Anstoss, nach Afrika zu gehen, hat gemäss Hubert Steinke ein Bericht der Pariser Missionsgesellschaft gegeben. «Das Suchen hatte ein Ende», fasste Schweitzer zusammen.

Medizin als Mittel zum Zweck

Ob er selber für seinen Afrika-Einsatz ein abgeschlossenes Medizinstudium als nötig erachtete, liess Schweitzer offen, wie er in einem Brief schrieb: «Wenn die Gesellschaft es für nützlich hält, mich mein Medizinstudium beenden zu lassen, wird sie es tun. (…) Aber wenn man schon früher einen Missionar braucht, beende ich das Studium nicht.» Für den Medizinhistoriker Steinke zeichnet dies ein eindeutiges Bild: Die Medizin war für Albert Schweitzer ein Mittel zum Zweck des Helfens. «Er wurde nicht Arzt, um Arzt zu sein, sondern um Arzt in Lambarene zu sein.»


Das Urwaldspital in Lambarene im Aufbau ab 1913.

War er ein guter Arzt?

Dieser Pragmatismus sei kennzeichnend für das Lambarene-Projekt, so Steinke: Schweitzer habe den Entschluss gefasst, den «grösstmöglichen Dienst an der grösstmöglichen Anzahl Einheimischer zu leisten». Dieses humanitäre Engagement sei unbestritten, kritisiert werde vielmehr die Führung und Organisation seines Urwaldspitals: Schweitzer habe eine veraltete Medizin aufrechterhalten, er habe beispielsweise Instrumente noch mit heissem Wasser sterilisiert, als es schon den Autoklaven gab. Die Röntgenapparate seien erst sehr spät eingeführt und die hygienischen Bedingungen vernachlässigt worden.

Schweitzers Kritiker stützen sich vor allem auf Bildmaterial aus Lambarene – das aber laut Steinke auch ganz anders ausgelegt werden könne: «Was Aussenstehenden als chaotisch auffallen kann, betrachtet ein anderer als kontinuierliche Improvisation.» Schliesslich handle es sich in Lambarene nicht um eine Arztpraxis in Europa, sondern um eine Pflegestation von vielen kranken Menschen unterschiedlicher Stammesherkunft, die sich in einem klimatisch anspruchsvollen Gebiet befindet. Steinke illustrierte die Herausforderungen im Spital am Fluss Ogooué mit Patientenzahlen: Um 1910 trafen im Jahr 1000 neue Kranke ein, ab den 1930er Jahren waren es jährlich 4000 neue Patientinnen und Patienten.


Chaos oder kontinuierliche Improvisation? Albert Schweitzers Arbeit kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden.

Schweitzers Stärken und Schwächen

Der Eindruck des Berner Medizinhistorikers: «Das Spital war einfach eingerichtet, aber scheint in relevanten medizinischen Aspekten recht gut organisiert gewesen zu sein.» Bilder, die Kranke zusammengepfercht in einer zeltartigen Hütte zeigen und von Kritikern angeführt werden, stammen gemäss Steinke aus der ersten Zeit des Aufbaus des Spitals; schon bald nämlich standen den Patienten Kajütenbetten zur Verfügung. Jeder Kranke hatte ausserdem eine Patientenkarte mit ausführlichen Vermerken: Name, Herkunft, Art der Erkrankung wie «Hautlappenwunde», Status der Behandlung, Bezahlung für beispielsweis 32 Tage Essensrationen. 

Gewisse Medikamente setzte Albert Schweitzer sogar sehr früh ein, etwa Arzneien gegen Lepra oder Schlafkrankheit. «Punktuell ist ein zeitgemässer medizinischer Fortschritt in Lambarene zu erkennen», so Steinke, unklar sei, wie systematisch Schweitzer die Modernisierung vorangetrieben habe. Ein Schwachpunkt sei etwa sein aus heutiger Sicht mangelndes Bemühen um Krankheitsprävention und die medizinische Ausbildung von Afrikanern gewesen – darin blieb er gemäss Steinke «in seinem kolonialen und vielfach bezeugten paternalistischen Umgang mit Einheimischen verhaftet».


Das Spital existiert heute noch: Lambarene in moderner Zeit.

Sich dem Ganzen untergeordnet

Albert Schweitzer, der Arzt, der auch Malermeister, Schreiner und Bauleiter war: «Schweitzer ging es nicht um sein persönliches Wirken als Arzt, sondern um das gesamte Spital-Projekt», wie Steinke sagt. Er habe sich dem Funktionieren des Krankenhauses untergeordnet. Den Arzt Albert Schweitzer gibt es durchaus, aber vor allem gibt es den humanitären Helfer Albert Schweitzer, der «dank seines Einsatzes und seiner Beharrlichkeit seine eigene Vorstellung von humanitärer Hilfe aufbauen konnte», so der Medizinhistoriker.

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