Bedrohte Werte in der direkten Demokratie?
Unsere Gesellschaft ist pluralistischer geworden. Bedeutet mehr Vielfältigkeit auch mehr Konflikte? Verlieren unsere Werte im Zuge der Globalisierung an Bedeutung? Dies diskutieren Experten an der aktuellen Veranstaltungsreihe des Forums für Universität und Gesellschaft (FUG).
Heutige Gesellschaften sind geprägt von kultureller und religiöser Vielfalt. Die These, dass dies zu mehr Konflikten führt, stellte Friedrich Wilhelm Graf, Theologieprofessor an der Universität München, gleich zu Beginn der gut besuchten Veranstaltung der Forumsreihe in den Raum. Für Alt SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr zeigten dagegen die Weltreligionen, die in der Vergangenheit und Gegenwart dem Anderen keinen Platz geben, dass auch fehlende Vielfältigkeit Auslöser von Auseinandersetzungen sein kann. «Pluralismus ist eine Voraussetzung für Demokratie», knüpfte Wolf Linder, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, an, «und bedeutet, dass ich anerkenne, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, die für alle gelten.»
Dass sich diese Vielfalt aber nicht von selbst reguliert, sondern gemeinsamer Regeln des Zusammenlebens bedarf, darüber waren sich die Teilnehmenden der ersten Veranstaltung der FUG-Reihe «Bedrohte Werte? Europa und der Nahe Osten unter Globalisierungsdruck» einig. So verwies etwa Andreas Kley, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, auf die Bedeutung übergeordneter juristischer Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg und deren Entscheide. Dort komme es wie bei jedem Gericht zu Fehlurteilen – die Diskussion um Kruzifixe in Schulzimmern sei nur ein Beispiel. «Man darf aber aufgrund einzelner Fehlurteile nicht die ganze Institution in Frage stellen», so Kley. Ausserdem sei der Entscheid von 2009, christliche Kreuze in Klassenzimmern öffentlicher Schulen zu verbieten, revidiert worden.
Kritik an der Justiz
«Nicht alles, was aus Strassburg kommt, ist göttlich», mahnte der stellvertretende Chefredakteur der Weltwoche, Philipp Gut, der sich als starker Befürworter der direkten Demokratie positionierte. Auch Wolf Linder übte Kritik an der Machtposition der Justiz, die dem Volk, dem Parlament und der Regierung übergeordnet wird: «Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit, dass das Bundesgericht Verfassungsnormen nicht anwendet, nur weil diese vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig eingestuft werden könnten.» Es werde zukünftig immer häufiger zu Kollisionen zwischen dem Volksbegehren und dem internationalen Recht kommen. «Die Frage ist nun, wie wir damit umgehen.»
Eine mögliche Lösung stellt gemäss Hans-Jürg Fehr der Vorschlag des Bundesrates dar, das Stimmvolk bei «heiklen» Initiativen wie der Minarett-Initiative vorgängig auf einen möglichen völkerrechtlichen Verstoss im Falle einer Annahme hinzuweisen. «Intellektuell gesehen ist eine vorgängige Prüfung von Initiativen sicher richtig, aber ich befürchte, dass die Bundesversammlung alles abklemmt, was ihr nicht passt – und zwar aus politischen Gründen und nicht aus rechtlichen», hielt Rechtsprofessor Kley dagegen. Er betonte auch, dass Menschenrechte und direkte Demokratie untrennbar miteinander verbunden seien: «Sie bedingen einander. Man kann sich nicht vorstellen, dass das Volk etwas gegen sich beschliesst – so viel Vernunft traut man ihm zu».
Direkte Demokratie als Exportartikel
Trotz den diskutierten Schwierigkeiten, welche aus dem Spannungsfeld zwischen direkter Demokratie und Menschenrechten hervorgeht, wird die Schweiz im Ausland um ihr Modell beneidet. Könnte die direkte Demokratie nicht auch in Deutschland eingeführt werden? «Es entspricht dem allgemeinen Volkswillen in der Schweiz, aber auch in den angrenzenden Nachbarsregionen, möglichst viel politisch mitbestimmen zu dürfen», sagte Philipp Gut in Anlehnung an eine Umfrage der Weltwoche. Politologe Linder gab jedoch zu bedenken, dass direkte Demokratie nicht so einfach exportiert werden könne: «Diese muss jedes Land aufgrund seiner Bedingungen und Geschichte selbst einführen.» Dennoch war auch er der Meinung, dass die direkte Demokratie in Deutschland und anderen Ländern Zukunft hat.
Nicht alle Werte sind Realität
Die Frage, ob es in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat überhaupt bedrohte Werte gibt, griff Moderator Rudolf Burger aus dem Publikum auf. «Woran das Herz der Menschen hängt, liegt nicht in der Macht des Staates. In dem Sinn also, dass wir alle dasselbe für wichtig halten, sind unsere Werte nicht bedroht», war Theologieprofessor Graf überzeugt. Der Staat könne Werte wie Höflichkeit nicht mit seinem Recht erzwingen. Es sei vielmehr Aufgabe der Gesellschaft, Tugenden, die im Hinblick auf die wachsende Pluralität an Bedeutung gewinnen, den Nachkommen mitzugeben.
Hans-Jürg Fehr hingegen sah durchaus bedrohte Werte und führte die Gleichheit als Beispiel an. Diese sei heute noch nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen umgesetzt worden, wie etwa das Lohngefälle zwischen Mann und Frau bei gleicher Leistung zeige. «Einige Werte sind daher gefährdet. Sie sind zwar zum Recht geworden, aber in der Realität angekommen sind sie noch lange nicht.»
Veranstaltungsreihe
sf. Das Forum für Universität und Gesellschaft führt unter dem Titel «Bedrohte Werte? Europa und der Nahe Osten unter Globalisierungsdruck» insgesamt fünf Veranstaltungen durch. Nach der Einführung finden am 30. November 2013, am 11. und 25. Januar sowie am 15. Februar 2014 weitere Veranstaltungen statt. Eine Anmeldung, jeweils bis fünf Tage vorher, ist erforderlich. Die Veranstaltungen werden neu auch via Live-Stream übertragen.