Das Geschlecht macht auch vor dem Tod nicht Halt
Die Sterbebegleitung – sei es in Spitälern oder zuhause – wird mehrheitlich von Frauen wahrgenommen. Dass sich die Geschlechter beim Thema «Tod» auch sonst unterscheiden, zeigt Theologieprofessorin Isabelle Noth auf.
Vor dem Tod sind alle gleich, sagt man. Dem widerspricht Isabelle Noth, Professorin am Institut für Praktische Theologie, klar: «Ich gehe von der These aus, dass Geschlecht – anders als behauptet – auch vor dem Tod keinen Halt macht.» Über die Frage, inwiefern Gender eine relevante Analysekategorie für die Seelsorge bei Sterbenden und für Palliative Care – die Betreuung und Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen oder chronisch fortschreitenden Krankheiten – ist, hat sie an der Tagung «Gender und Tod» gesprochen. Diese wurde von den vier Professorinnen der Theologischen Fakultät ausgerichtet.
Töchter als Vorsorge
Während die Begleitung von Sterbenden früher von Familien, Freunden und Pfarrern wahrgenommen wurde, übernehmen diese Aufgabe in der heutigen Gesellschaft hauptsächlich Ärzte und Pflegekräfte. «Es ist zu einer sogenannten ‹Verlagerung des Sterbeortes› gekommen», so Noth. Was die Zahlen eindrücklich belegen: Zwar wünschen sich die meisten Menschen – das heisst über 90 Prozent –, zuhause das Zeitliche zu segnen, effektiv geschieht dies aber nur bei einem Viertel. «Die grosse Mehrheit stirbt also in Spitälern und Pflegeheimen – wo wiederum fast 90 Prozent Frauen in Pflegeberufen tätig sind», erläutert die Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik.
Was man denn tun müsse, um zu den erwähnten 25 Prozent zu gehören, fragt sie und zitiert – zur allgemeinen Erheiterung – aus dem Buch «Über das Sterben» von Gian Domenico Borasio. Um zuhause zu sterben, seien nicht etwa viel Geld oder gute Ärzte wichtig, schreibt der Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, sondern Töchter. Da die Pflege vor allem von der eigenen Tochter übernommen werde, sei es jedem anzuraten, als Vorsorge für das Lebensende eine, am besten aber mehrere Töchter zu zeugen. «Wem nur Söhne gelingen, der sollte wenigstens die Auswahl der Schwiegertöchter sehr genau überwachen und sich mit ihnen beizeiten gut stellen», heisst es weiter.
Frauen gehen häufiger freiwillig
Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit dem Sterben, bei dem sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen, ist das Thema Suizid: Während sich pro Jahr 1’000 Männer selbst töten, sind es 400 Frauen. «Dies wird unter anderem damit erklärt, dass Männer eher Zugang zu Waffen haben. Wenn sie ihr Leben beenden, dann radikal und schnell», sagt Noth. Frauen dagegen würden tendenziell sanftere Methoden wie Medikamente bevorzugen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, noch rechtzeitig gefunden zu werden, grösser sei. Das Bundesamt für Gesundheit schätzt daher, dass von etwa 20'000 versuchten Suiziden pro Jahr die Mehrheit auf Frauen entfällt.
In diesem Zusammenhang geht Isabelle Noth auch auf den assistierten Suizid ein, wie ihn etwa die Institution «Exit» anbietet. 2008 nahmen gemäss deren Homepage 167 Personen die Dienste der Organisation in Anspruch, wobei etwa 59 Prozent Frauen und 41 Prozent Männer waren. 2009 sah das Verhältnis ähnlich aus, es waren aber insgesamt bereits 217 Personen. Danach sind die Statistiken nicht mehr geschlechtergetrennt angegeben, aber jedes Jahr stieg die Zahl um etwa 50 Personen.
Das lasse sie aufhorchen, sagt Noth, denn Frauen entschieden sich offensichtlich häufiger für den assistierten Suizid als Männer: Können sich Letztere eher darauf verlassen, gepflegt zu werden, als Erstere? «Dass Frauen angesichts des Todes plötzlich mehr Gebrauch von ihrem sogenannten Selbstbestimmungsrecht machen sollen als Männer, ist fragwürdig und erklärungsbedürftig», so die Theologin. «Es ist zu vermuten, dass die Zahlen weniger mit Selbstbestimmung als mit geschlechtsspezifischen Nöten in einem nach wie vor patriarchal geprägten Umfeld zu tun haben.»
Keine Last sein wollen
Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich gemäss der Theologieprofessorin aber nicht nur in den Statistiken, sondern lassen sich auch anhand der Begründungen Sterbewilliger feststellen: «Es fällt auf, dass Frauen häufiger angeben, niemandem zur Last fallen zu wollen. Männer dagegen plausibilisieren ihren Entscheid eher mit dem Begriff der Selbstbestimmung, der den mündigen Bürger seit der Aufklärung kennzeichnet.»
All diese Beobachtungen haben auch Konsequenzen in der Praxis: Gemäss Noth müssten etwa geschlechtsspezifische Gründe und Aussagen zum Sterben in der Seelsorge aufgenommen und thematisiert werden. Daneben werde es für die Sterbebegleitung zunehmend wichtig, interreligiöse und interkulturelle Aspekte zu beachten, was sich beispielsweise auf die Pflege, Körperlichkeit und Intimität auswirke. Nicht zuletzt sollten gemäss Noth stereotype Rollenbilder aufgebrochen werden: «Wir benötigen grundsätzlich mehr Männer in der Pflege.»