Eveline Hasler über den Zufall in ihren Romanen
Ihre Bücher geben den Aussenseitern und Totgeschwiegenen eine Stimme: In einem Gespräch an der Universität lieferte Eveline Hasler, «Grand Old Lady» des historischen Romans und seit 2012 Ehrendoktorin der Uni Bern, einen Einblick in die Entstehung ihrer Werke.
Es sind tragische Gestalten, die sich in Eveline Haslers historischen Romanen tummeln. Menschen die gegen die Konventionen ihrer Zeit verstiessen und von der offiziellen Geschichtsschreibung nur stiefmütterlich behandelt wurden – falls überhaupt. Da ist etwa der Bündner Lehrer Thomas Davatz, der 1855 mit einer Gruppe Auswanderer vor dem Hunger in seiner Heimat nach Brasilien flieht und in der Sklaverei landet («Ibicaba – das Paradies in den Köpfen», 1985). Gar in der Basler Irrenanstalt endet 1899 Emilie Kempin-Spyri, die erste promovierte Juristin der Schweiz («Die Wachsflügelfrau», 1991).
An einem Gespräch an der Universität Bern mit Corina Jäger-Trees vom Schweizerischen Literaturarchiv bot Hasler einen Einblick die Entstehung ihrer «biographies romancées», wie das Genre genannt wird. Mit diesen Romanen sollen «die Totgeschwiegenen, deren Schweigen zwischen jenen lauert, die weiterreden dürfen», endlich eine Stimme erhalten.
Sie gibt den Totgeschwiegenen eine Stimme: Eveline Hasler. (Bild: Yvonne Böhler)
Der Schindler, der vergessen wurde
Auch Hasler aktuelles Werk «Mit dem letzten Schiff» handelt von einem, der unverdientermaßen zum Aussenseiter wurde: US-Journalist Varian Fry, der amerikanische Oskar Schindler, dessen Netzwerk 1940 und 1941 in Südfrankreich über 2000 Künstler und Intellektuelle vor den Nazis rettete. Nach der Rückkehr in die USA wurde Fry als Kommunist gebrandmarkt und geriet in Vergessenheit.
Wie gerät Eveline Hasler, die «Grand Old Lady» des historischen Romans, so die NZZ, an Figuren wie Fry oder Thomas Davatz? Oft spiele der Zufall eine Rolle, sagt die gebürtige Glarnerin und zitiert den Deutsch-Schweizer Historiker Golo Mann: «Nicht der Autor kommt zu Stoff, sondern der Stoff kommt zum Autor.» So fand sie beispielsweise im Privatarchiv eines alten Glarners zufällig das Tagebuch von dessen Urgrossvater Davatz. Der hatte im Auftrag der Bündner Regierung seine strapaziöse Reise nach Südamerika akribisch dokumentiert. Dieses Tagebuch bildete den Ausgangspunkt für «Ibicaba».
Das Internet hat alles verändert
Der Zufall war auch bei «Mit dem letzten Schiff» eine grosse Hilfe: Eveline Hasler suchte nach Zeitzeugen und stiess in den Archiven auf den Namen Justus Rosenberg. Der jüdische Kriegsflüchtling hatte als Varian Frys Laufbursche gearbeitet. Doch die Suche nach ihm blieb erfolglos, da Rosenberg mehrfach seine Identität gewechselt hatte. Hasler vermutete, dass er in den USA lebte: «Kurz vor meiner Abreise dorthin stellte sich heraus, dass ihn meine Nachbarin am Vorabend in einer TV-Dokumentation über den Holocaust gesehen hatte.»
Die Autorin sichtete den Film im Internet und fand die E-Mail-Adresse Rosenbergs: Er war mittlerweile Professor an einer New Yorker Universität geworden. «Das Internet hat den Recherche-Prozess total verändert», sagt die 80-Jährige, die Jahre damit verbracht hat, Dokumente bloss an physischen Orten wie im Schweizer Literaturarchiv zu suchen.
Den «Faktenteppich» weben
Ob nun online oder analog: Haslers Recherche dauert stets maximal eineinhalb Jahre. Für das Schreiben nimmt sie sich nochmals genau so lange Zeit. Dieses Schema haben übrigens nicht etwa Verlage oder Lektoren vorgegeben, sondern sie sich selbst: «Wenn ich am schreiben bin, recherchiere ich bewusst nicht mehr. Immer wieder spicken zu müssen, stört nur.» Sie versuche deshalb, in der ersten Phase einen möglichst dichten «Faktenteppich» zu weben, auf den sie sich dann beim Verfassen der Romane stütze.
Aller Tatsachenorientierung zum Trotz kommt auch Eveline Hasler nicht ohne das erzählerische Element aus; zum Beispiel in Form von Metaphern oder historisch nicht verbürgten Dialogen zwischen den Charakteren. Es ist diese Schnittstelle zwischen Fakt und Fiktion welche im Zentrum von Evline Haslers literarischem Werk steht, wie sie sagt: «Die Wirklichkeit ist so umwerfend und faszinierend – an den Figuren als solchen muss ich nichts ändern. Aber die Belletristik, die kann die Atmosphäre einer Epoche besser wiedergeben als eine rein faktenorientierte, wissenschaftliche Arbeit.»