Wie und wozu Medizingeschichte?

Das Institut für Medizingeschichte der Universität Bern feiert sein 50-jähriges Bestehen. An einer öffentlichen Podiumsdiskussion blickte es auf seine Vergangenheit zurück und nutzte die Gelegenheit, um die jetzige und künftige Rolle der Medizingeschichte zu erörtern.

Mit der Gründung des Instituts 1963 hat die Medizingeschichte in Bern eine Professionalisierung erfahren und ist seither fest im Lehrplan der ärztlichen Ausbildung verankert. Während sich zuvor historisch interessierte Mediziner nebenamtlich der Geschichte ihres Fachs gewidmet hatten, waren von nun an habilitierte Medizinhistorikerinnen und -historiker für Forschung, Lehre und damit auch für eine inhaltliche Positionierung des Fachs verantwortlich. Dennoch, so ging aus den Vorträgen der Jubiläumsfeier hervor, ist das Institut nach wie vor ganz wesentlich getragen durch ein Engagement, das weit über die wenigen bezahlten Stellen hinausreicht. Medizingeschichte bleibt für viele, die im Institut tätig sind und zu dessen Blühen beitragen, eine Herzensangelegenheit. Das Fach lebt von seiner Position ausserhalb und zwischen den anderen Disziplinen.

Ein historisches Objekt der Medizin: Der Operationstisch Modell X wurde 1912 vom Berner Chirurgen und Professor Fritz de Quervain entwickelt.
Ein historisches Objekt der Medizin: Der Operationstisch Modell X wurde 1912 vom Berner Chirurgen und Professor Fritz de Quervain entwickelt. (Bild: IMG, Universität Bern, Inv. 4232).

Die fortwährende Reflexion und Selbstreflexion, die sich die Medizingeschichte zur Aufgabe macht, sollte auch am Festakt zum 50-jährigen Jubiläum nicht fehlen. So wurde der Anlass, der auf grosses Interesse stiess, durch den aktuellen Direktor Hubert Steinke nicht ohne Vorbehalte angegangen: Die Medizingeschichte habe ein gespaltenes Verhältnis zu Jubiläumsfeiern, denn sie werde gern gerufen, wenn medizinischer Fortschritt und die Kontinuität medizinischer Institutionen gefeiert und durch einen unterhaltsamen Beitrag untermalt sein wollen. Dies ist ein durchaus legitimer Auftrag, der dem Anspruch des Fachs allerdings nicht gerecht wird.

Nachlass berühmter Forscher in Bern

Die Fragestellungen der Medizingeschichte haben sich seit ihrer Professionalisierung gewandelt und wurden entsprechend den wechselnden aktuellen Fragen im Feld der Medizin, aber auch entlang den methodischen Diskussionen in den Geschichtswissenschaften, neu ausgerichtet. Thematisch setzen die drei Institute der Schweiz – Bern, Lausanne und Zürich – unterschiedliche Schwerpunkte. Für das Berner Institut liegt der Fokus der Forschung momentan stark auf der ärztlichen Praxis, der sich zwei verschiedene, vom Nationalfonds finanzierte Forschungsprojekte widmen. Eine der wichtigsten Grundlagen für das Institut ist dabei das interne Archiv. Hier werden Nachlässe aufgenommen, die einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen bieten. Jüngst konnten beispielsweise der Nachlass des LSD-Entdeckers Albert Hofmann sowie das Archiv des Psychiaters Hermann Rorschach integriert werden.

Kritische Reflexion in der medizinischen Ausbildung

Nach einem Blick zurück auf die Geschichte des Instituts diskutierten die aktuellen Lehrstuhlinhaber der Medizingeschichte der Universitäten Lausanne und Zürich, Vincent Barras und Flurin Condrau, zusammen mit Hubert Steinke an einem Podiumsgespräch die Frage «Wie und wozu Medizingeschichte?». Dabei wurde erneut deutlich, dass sich das Fach vielseitig zu positionieren hat. In der Forschung gilt es, sich mit den methodischen Ansprüchen zu messen, die an das Fach Geschichte gestellt werden, und sich in einem internationalen Forschungsumfeld zu behaupten.

In den Veranstaltungen der drei Medizinhistoriker Vincent Barras, Hubert Steinke und Flurin Condrau (v.l.) soll Medizin von einer Metaebene aus betrachtet werden. (Bild: Sandra Flückiger)

Zugleich hat sich die Medizingeschichte in der medizinischen Ausbildung als Ort anzubieten, an dem Fragen gestellt werden, für die ansonsten wenig oder gar kein Raum besteht. Diese Rolle des Fachs ist unumstritten. Wie der Dekan der Berner Medizinischen Fakultät, Peter Eggli, betonte, ist gerade die kritische Reflexion als Teil der ärztlichen Ausbildung eine Voraussetzung dafür, dass sich die Medizin als akademisches Fach verstehen darf und nicht einer handwerklichen Berufsausbildung entspricht. Hier leistet die Medizingeschichte einen zentralen Beitrag.

Was einen guten Arzt auszeichnet

Dennoch stellt sich die Frage, was der Blick zurück den angehenden Ärztinnen und Ärzten denn konkret bieten kann. Die drei Dozenten waren sich darin einig, dass es in ihren Lektionen darum gehen soll, die Medizin von einer Metaebene aus zu betrachten. Ein historischer Zugang, etwa zu der Frage, was einen guten Arzt und eine gute Ärztin auszeichne, legt offen, wie unterschiedlich diese Frage beantwortet worden ist und werden kann. Die Kenntnis von den Zusammenhängen historischer Körpervorstellungen und Begrifflichkeiten kann zudem dabei helfen, Patientinnen und Patienten besser zu verstehen, die sich an Krankheitskonzepten ausrichten, die nicht der aktuellen Lehre entsprechen.

Eine weitere Aufgabe sehen die drei Medizinhistoriker darin, mit den Studierenden das Thema der Wissenschaftlichkeit anzugehen. Diese sollten als Akademikerinnen und Akademiker fähig sein, sich über bestimmte Themen einen Forschungsüberblick zu verschaffen. Eine eigene, kritische Haltung ist dabei nicht bloss gegenüber alten, sondern auch gegenüber neuen Erkenntnissen einzunehmen. Die Studierenden, die sich in der medizinischen Ausbildung insbesondere darauf konzentrierten, sich eine grosse Menge an Wissen anzueignen, sollten sich bewusst werden, dass auch dieses Wissen kritisch zu reflektieren ist.

50 Jahre Medizingeschichte Bern

Das Institut für Medizingeschichte (IMG) der Universität Bern wurde 1963 als Bibliothek für Medizingeschichte gegründet. Derzeit werden zwei vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Forschungsprojekte zur Geschichte der ärztlichen Praxis durchgeführt. Das IMG leistet zudem den medizinhistorischen Unterricht an den Medizinischen Fakultäten in Bern und Basel. Die Bibliothek umfasst heute rund 80'000 Bücher, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Nebst verschiedenen Archiven beherbergt das Institut auch Objektsammlungen, die aus rund 5000 Objekten wie Instrumenten, Brillen oder Skeletten bestehen.

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