Wie das heile Kind krank wurde
Erziehungsberatungsstellen, Schulpsychologen und Schulärzte kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Am Symposium «Sakralität und Pädagogik» wurde unter anderem aufgezeigt, wie Schulkinder pathologisiert wurden.
Kinder sind gut und gesund, ihre Natur ist göttlich. Einen schlechten Einfluss haben höchstens der Schulunterricht, das Bildungsideal und die nervösen, ungeduldigen Eltern. So lautete zu Beginn des 20. Jahrhunderts die vorherrschende reformpädagogische Auffassung. Zur selben Zeit lässt sich jedoch auch beobachten, wie böse Kinder sich zu kranken wandeln. In Maria Montessoris Kinderhaus «casa dei bambini» galten etwa Kinder, die andere stiessen und an den Haaren zogen, als «moralisch krank».
«Diese vornehmlich moralische Pädagogik wandelte sich um 1900 dann zu einer zumindest vordergründig auch prononciert pathologischen Pädagogik», erklärt Patrick Bühler. Der Professor für Allgemeine und Historische Pädagogik an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) sprach an der Uni Bern am Symposium «Sakralität und Pädagogik», das vom Institut für Erziehungswissenschaften organisiert wurde, über «Heil und Heilung. Zur Psychopathologie des Schullebens am Anfang des 20. Jahrhunderts».
Ein Zehntel der Schüler hat Gebrechen
«Um 1900 begann man sich international massiv mit Kindern zu beschäftigen, die als anormal angesehen wurden», sagt Patrick Bühler. Das psychische Wohlbefinden der Kinder rückte ins Zentrum, und es ging um die Frage: Wie kann man diese damals sogenannt anormalen Kinder von den normalen unterscheiden? Diesem Thema widmeten sich in der Schweiz zahlreiche Studien – sowie die Lehrerinnen und Lehrer: Sie untersuchten ab 1897 zahlreiche Jahrgänge von Schulkindern auf ihre geistigen, körperlichen und moralischen Gebrechen hin.
Diese «Enquêten», die anhand eines speziell dafür erarbeiteten Kriterienkatalogs durchgeführt wurde, ergaben beispielsweise, dass etwa zehn Prozent der Erstklässlerinnen und Erstklässler mit körperlichen und ein Prozent mit geistigen Gebrechen behaftet waren. Ein halbes Promille der Schulkinder wurde als sittlich verwahrlost eingestuft. «Um diese hilfsbedürftigen Kinder, die insgesamt ja doch in die Tausende gingen, besser unterstützen zu können, forderten die Lehrerverbände Sonderlehrer und -klassen – die Schule wurde therapeutischer», erzählt Bühler. Es seien ausserdem Erziehungsberatungsstellen, schulpsychologische Dienste und Schulärzte entstanden.
Der Grundstein für unser wachsendes Gesundheitssystem
Damit einher ging gemäss Bühler die «Anormalisierung» von normalen Kindern – diesem Vorgang gilt sein Hauptinteresse. So boten die entstehenden Beratungsstellen neue Möglichkeiten bei Erziehungsschwierigkeiten, und die Beurteilung von Kindern und ihren Problemen ging in eine nächste Phase über. «Schwierigkeiten mit den Kindern wurden dann nicht mehr als moralisches Problem aufgefasst, sondern neu als Symptom», so der Historiker. Wenn Schüler etwa immer nachfragten, wurde dies nicht wie vorher als fehlende Aufmerksamkeit und Unart angesehen – sondern zum Beispiel ein Schmalzpfropfen im Ohr als Grund in Betracht gezogen. Zur Abklärung wurde ein Arzt beigezogen. «Neben den gesunden ‹heiligen› Kinder trugen, wenn es um ‹anormale› Kinder ging, von da an die Erzieher, Psychologen und Ärzte einen Heiligenschein», fasst Bühler zusammen.
Die zunehmende Verschreibung von Medikamenten sowie die Institutionalisierung der Heilpädagogik waren allerdings nur ein Aspekt einer umfassenden Entwicklung: «Die ganze Gesellschaft war betroffen», sagt Bühler. So sei beispielsweise 1893 das Bundesamt für Gesundheit (BAG) entstanden, gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich ausserdem die Kinderpsychiatrie oder das Jugendstrafrecht. «Um diese Jahrhundertwende wurde der Grundstein gelegt für eine Entwicklung, die wir bis heute beobachten können: medikalisierte, therapeutische Gesellschaften mit wachsenden Gesundheitssystemen.»