Wieder in den eigenen Körper schlüpfen
Es dreht sich alles um die Figur, um den eigenen Leib, doch eigentlich sind sie weit von ihm entfernt: Magersüchtige Menschen versuchen, durch das Hungern Selbstwertprobleme zu lösen. Der Weg aus dem zwanghaften Kontrollverhalten führt in den Körper hinein, wie Körperpsychotherapeutin Thea Rytz erklärt.
Eigentlich steckt hinter der Strategie einfach die Hoffnung, glücklicher zu werden. Doch dieser Plan geht bei Menschen mit Essstörungen nicht auf, wie Thea Rytz von der Universitätsklinik für Endokrinologie, Diabetologie, Klinische Ernährung und Prävention von Essstörungen des Inselspitals erklärt: Die Frauen und Männer, die ihre Körper Hunger leiden lassen oder mit Erbrechen quälen, versuchen mit einem Vermeidungs- beziehungsweise Kontrollverhalten Probleme des Selbstwerts zu lösen: Mit der idealen Figur, so denken sie, würden sie sich weniger schlecht fühlen, wären sie akzeptierter, weniger einsam und würden auch noch gleich den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft mit ihren Schönheitsidealen genügen.
Die Betroffenen verfolgen dieses Ziel mit viel Selbsteffektivität: «Die Betroffenen verbergen ein wackliges Selbstwertgefühl hinter einem zwanghaften Verhalten, das sich verhängnisvoll praktisch in Kilogramm messen lässt», so Thea Rytz: Es kann von Tag zu Tag stets wieder für jedes Gramm gehungert werden.
Schwierige Emotionen als «dick» gedeutet
Was einen Menschen zur Anorektikerin (Magersucht) und zum Bulimiker (Brechsucht) macht, hat viele Gründe, die zusammenspielen, erklärt die Körperpsychotherapeutin: familiäre Prägungen, Schicksalsschläge, schwierige Emotionen. «Belastende Gefühle werden im Körper oft als Schwere und Enge wahrgenommen», sagt Rytz. «In einer Gesellschaft, die differenzierte Selbstwahrnehmung und das Sprechen darüber kaum fördert, wird diese körperlich empfundene, emotionale Schwere leicht mit Dicksein verwechselt.»
Und so kann eine sensible Person schnell in die Spirale des zwanghaften Kalorienzählens geraten. Denn das Kontrollieren gibt einer magersüchtigen Person das Gefühl, etwas Entlastendes für sich tun zu können. Das Herauskommen ist schwierig – aber Körperpsychotherapeutin Rytz macht «sehr gute Erfahrungen» mit achtsamer Körperwahrnehmung, wie sie an einer Tagung der Universitären Psychiatrischen Dienste über Achtsamkeit und ihre Anwendung in klinischen und pädagogischen Kontexten erklärte.
Der langsame Weg zu sich selbst
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Mit einem inneren Auge den Empfindungen im Körper folgen. Den Druck der Fusssohlen auf dem Boden spüren. Fühlt sich dies kalt, warm, prall oder leicht an? In den Achtsamkeitsübungen wird die Aufmerksamkeit von innen her auf den Körper gerichtet. «Die Wahrnehmungen haben somit nichts mit der äusseren Form zu tun und sind neutral. Warm oder kalt sind ja weder gut noch schlecht», erläutert die Therapeutin den Ansatz des Trainings.
Die Beobachtung des eigenen Körpers kann also ohne Bewertung erfolgen und es entsteht ein Kontakt mit der körperlichen Wirklichkeit. «Menschen mit Essstörungen haben nicht nur eine verzerrte Wahrnehmung ihrer selbst, sondern sie haben vor allem Angst, überhaupt etwas wahrzunehmen – es könnte ja plötzlich sein, dass sie sich emotional überflutet und haltlos fühlten», erklärt Thea Rytz.
Die Angst fällt weg
Sabine Jakob und Maya Basmann konnten unter der Leitung von Nadine Messerli in explorativen Studien im Rahmen ihrer Masterarbeiten am Psychologischen Institut der Uni Bern zeigen, dass nach über 7 Monaten mit rund 20 Sitzungen à 2 Stunden mit achtsamer Körperwahrnehmung eine Abnahme der Symptome klinischer Essstörungen bei den 21 teilnehmenden Patientinnen am Inselspital einstellte. «So kann sich eine unter Magersucht leidende Frau wieder mit ihrem Körper verbinden, die Angst vor diesem fällt weg.»
Durch die verbesserte Regulation von Emotionen hätten die Betroffenen weniger das Gefühl, etwas vermeiden oder kontrollieren zu müssen. «In den eigenen Körper zurückzukehren ist ein Prozess, der viel Geduld erfordert, aber schliesslich das Vertrauen in persönliche Entwicklungsmöglichkeiten nährt», so Rytz. Was auch nach längerem Achtsamkeitstraining meistens (noch) bleibe, sei die Unzufriedenheit mit dem Gewicht. Eine Sorge, die aber viele Menschen – auch völlig gesunde – teilen.
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Publikation zu Essstörungen
pd. Der Lebensstil in westlichen Industrienationen ist dominiert von Zeit- und Leistungsdruck, Bewegungsmangel, Konsum- und Schönheitsidealen und der damit einhergehenden Entfremdung von einem schlichten Alltag mit sinnlich nährenden Bezügen. Viele Menschen versuchen, emotionale Schwierigkeiten zu bewältigen, indem sie ihren Körper manipulieren. Essverhaltensstörungen haben in allen westlichen Ländern zugenommen. In diesem Buch schildern zehn Therapeutinnen, wie sie in klinischen Gruppensettings Körperpsychotherapien in der Behandlung von Menschen mit Essstörungen und Adipositas anwenden. Sie vertreten die Vielfalt der aktuell wichtigsten körperorientierten Methoden. Thea Rytz & Silvia Wiesmann Hg. (2013), Essstörungen und Adipositas. Akzeptanz verkörpern, Formen körperorientierter Gruppentherapien, Hans Huber Verlag.