Der Schatz hinter dem Schatz

Forschende aus Bern und Wien haben auf einem mittelalterlichen Pergament einen nahezu unsichtbaren Text entdeckt und entziffert. Die vor 1000 Jahren niedergeschriebenen Zeilen gehören vermutlich zum verschollen geglaubten Werk eines antiken Historikers und bringen Licht in eine wenig bekannte Epoche des römischen Reiches.

Von Martin Zimmermann 28. November 2014

Mitte des 3. Jahrhunderts geriet das mächtige römische Reich ins Wanken: Germanischen «Barbaren» gelangen erstmals Angriffe auf das Kernland; im Jahr 251 wurde gar der römische Kaiser Decius auf dem Schlachtfeld getötet. Dem klassischen Philologen Gunther Martin von der Universität Bern und seiner Wiener Kollegin Jana Grusková ist es nun gelungen, einen nahezu unsichtbaren Text aus jenen Tagen zu entziffern. Er verbarg sich auf einer mittelalterlichen Handschrift und schildert Einfälle des Volks der Goten in den einst zum römischen Reichgehörenden Balkan.

Der Text bringt Licht in eine turbulente, bislang aber schlecht dokumentierte Epoche der Antike. «Er wird eine bedeutende Rolle in der Erforschung des 3. Jahrhunderts einnehmen», sagt Gunther Martin vom Berner Institut für Klassische Philologie. Dexipp, der mutmassliche Autor, gilt nämlich als der bedeutendste Historiker jener Zeit. Doch sein Werk zu den damaligen Gotenkriegen ist verlorengegangen; nur Auszüge sind erhalten geblieben. Die neuentdeckten Fragmente sind laut Martin die ersten, die wohl direkt aus einer Gesamtausgabe des historischen Textes stammen.

«Recyceltes» Pergament

Der auf Griechisch geschriebene Bericht Dexipps verbarg sich in einem kostbaren Kodex in der Österreichischen Nationalbibliothek. Jana Grusková entdeckte darin mehrere Blätter mit Texten aus dem 13. Jahrhundert, die über die ursprünglichen, im 11. Jahrhundert zu Pergament gebrachten Zeilen geschrieben worden waren. Das war ein übliches «Recycling»-Verfahren, denn Pergament war teuer.

Auf dem mittelalterlichen Pergament kam wieder der Ursprungstext zum Vorschein. Bild: spectral imaging by EMEL, processed image by david kelbe. © project fwf p24523-g19

«Den unteren Text hatte man für die Wiederverwendung des Pergaments abgeschabt, er war daher mit blossem Auge kaum sichtbar», erläutert Gunther Martin. Ein Technikerteam aus den USA bestrahlte das Pergament mit Licht verschiedener Wellenlängen und machte den ursprünglichen Text so zu rund 60 Prozent wieder lesbar.

Thraker und Griechen gegen die «Barbaren»

In einem der Fragmente wird beschrieben, wie sich Kaiser Decius nach einer verheerenden Niederlage zum Gegenangriff auf die Goten rüstet, die in Thrakien eingefallen sind und die Stadt Philippopolis (das heutige Plovdiv in Bulgarien) eingenommen haben. Erwähnt wird dabei ein Goten-Fürst namens Ostrogotha, der laut bisher bekannten Quellen zu dieser Zeit gar nicht gelebt haben sollte. Ein weiteres Fragment berichtet von Männern, die aus allen Teilen Griechenlands zum strategisch wichtigen Thermopylen-Pass strömen um einen weiteren «Barbaren»-Angriff abzuwehren. In der Ansprache an die Truppen zieht ein römischer Beamter explizit Parallelen zur legendären Schlacht bei den Thermopylen um 480 vor Christus zwischen Griechen und Persern.

Das antike Philippopolis
Das antike Philippopolis, heute Plovdiv, wurde einst von den Goten eingenommen. Bild: Anton Lefterov/Wikimedia Commons

Der Neufund, der nun in der Fachzeitschrift «Greek, Roman, and Byzantine Studies» publiziert wurde, liefert somit auch wertvolle Hinweise auf die politischen Strukturen und die Geistesgeschichte der damaligen Zeit, wie Gunther Martin sagt: «Der Text illustriert das Verhältnis zwischen römischer Zentralmacht und der Provinzialbevölkerung, das Selbstverständnis der Griechen als Nation nach Jahrhunderten römischer Herrschaft, aber auch die inneren Strukturender gotischen Kriegergesellschaft.»

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