Die Grammophon-Globalisierung
Musik und Musiker wurden im 20. Jahrhundert dank der technischen Revolution immer mobiler – zumindest theoretisch. Die Hauptgewinner dieser Entwicklung waren letztlich die Plattenfirmen, wie Historiker Martin Kempe an seinem Referat am Center for Global Studies der Uni Bern deutlich machte.
Detroit um 1970: Trotz positiver Kritiken floppen die beiden Alben des Detroiter Folk-Musikers Sixto Rodriguez. Während sich der Künstler 1971 ins Privatleben zurückzieht, landen seine Lieder auf Schleichwegen in Südafrika. Insbesondere das Stück «Sugar Man» avanciert zum Klassiker der Anti-Apartheid-Bewegung. Rodriguez erfährt davon nichts – die Plattenfirmen, die seine Musik vertreiben, schweigen und streichen die Gewinne alleine ein. Viele halten den Sänger gar für tot. Erst nachdem ihn 1998 ein Fan via Internet aufspürt, kommt die Geschichte ans Licht und Rodriguez gelingt ein spätes Comeback.
Für Martin Kempe steht Rodriguez’ Hollywood-reife Karriere symbolisch für die teils widersprüchlichen Entwicklungen der modernen Musikindustrie. Der Konstanzer Historiker referierte am Forschungskolloquium des Berner Center for Global Studies über die Mobilität von Musik und Musikern im 20. Jahrhundert. Das «modische Etikett» Globalisierung will er diesen Prozessen übrigens nicht anheften. Dazu seien diese zu wenig linear gewesen und teils gar rückwärts gelaufen.
Jazz «in the USSR»
Kempe unterscheidet die Mobilität der Musiker und die der Musik selbst. Erstere habe ab Ende des 19. Jahrhunderts parallel zur Ausbreitung moderner Verkehrsmittel vor allem über den Atlantik zugenommen. «Aus den 1920er Jahren sind beispielsweise Tourneen der US-amerikanischen Gruppe Sam Wooding’s Jazz Orchestra durch Deutschland, England und sogar die Sowjetunion überliefert», erläutert der Historiker.
Mit «Swing-König» Teddy Stauffer hatte übrigens auch Bern einen umtriebigen Musiker auf Wanderschaft vorzuweisen, der in den 30er-Jahren vor allem im Deutschland populär war. In den USA blieb ihm der grosse Erfolg jedoch verwehrt, wie Kempe sagt: «Die mächtige Gewerkschaft American Federation of Musicians (AFM) schaffte es, seine Auftritte zu verhindern.»
Stauffer war nicht der Einzige: Weil «sesshafte» Musikschaffende oft von Arbeitslosigkeit und tiefen Löhnen betroffen waren, nahmen nach dem 1. Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise von 1929 protektionistische Massnahmen gegen «Wandermusiker» wie ihn überall zu; die Mobilität ging zurück. Erst nach dem 2. Weltkrieg setzte wieder eine Öffnung ein. Die US-Tournée der Beatles 1964 etwa habe die AFM nicht mehr verhindern können, so Kempe.
Fremde Disco-Musik
Anders verlief hingegen die Mobilität der Musik selbst, die sich dank der Entwicklung der Schallplatte um 1900 zunehmend vom Spielort entkoppelte und sich nun theoretisch global verbreiten konnte. Praktisch blieben laut Kempe in vielen Ländern indes eigene Musik-Traditionen vorherrschend, oder das Hören «fremder» Musik wurde den lokalen Gegebenheiten angepasst – wie das Beispiel von Sixto Rodriguez illustriert.
Erst ab den 60ern könne man von globalen Musikphasen sprechen. Allerdings: «Selbst auf weltweite musikalische Phänomene wie die Beatlemania, die Disco-Welle der 70er oder den fernsehkompatiblen TV-Pop der 80er folgten stets wieder Phasen der lokalen Ausdifferenzierung.»
Demgegenüber internationalisierte sich der Plattenmarkt sehr rasch. Einige wenige Grammophon-Firmen wie die französische Pathé oder die britische Gramophone Company hätten bald über Filialen in aller Welt verfügt, erläutert Martin Kempe: «Globalisiert wurde in im 20. Jahrhundert somit letztlich weniger die Musik, als vielmehr das Hören von Musik ab Tonträgern.»