«Hinterfragen, verstehen, vermitteln»

Der Islamwissenschaftler Florian Zemmin will das im Westen gepflegte Bild des Islam einer Revision unterziehen. Die Unterschiede zwischen Ost und West, so seine These, sind weniger grundlegend als vielfach angenommen. «uniaktuell» stellt wöchentlich junge Forschende der Uni Bern vor – bis zur «Nacht der Forschung» am 6. September.

Interview: Marcus Moser 12. August 2014

«Die Bruttozeit hat abgenommen, die Nettozeit ist gestiegen», fasst Florian Zemmin sein Leben als Forscher und Vater in eine paradoxe Formel zusammen und lacht. Bis 2016 will der 32-jährige Islamwissenschaftler seine Dissertation abschliessen, danach würde er gerne an der Uni bleiben. Ausgedehnte Reisen haben den Neugierigen hinaus in die Welt geführt, unter anderem nach Australien. Zemmin machte damals die Erfahrung des Anderen, des Fremden. Seither sind Fragen zur Identität sein Thema und Florian Zemmin ist überzeugt, dass deren Beantwortung unmittelbare Relevanz für das eigene Selbstverständnis, für die Sicht auf andere - und damit auch für das kulturelle Zusammenleben haben. Nach einem Bachelor in Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Religion und dem Studium der Sprachen Arabisch und Türkisch in Bayreuth hat der Deutsche in Bern sein Masterstudium absolviert –  unterstützt durch einen Grant der Universität Bern. Aktuell arbeitet der Doktorand als Forschungsassistent am Institut für Islamwissenschaft bei Professor Reinhard Schulze – und hat Erfolg: Seine Bachelor- und Masterarbeit konnte er in Artikel- bzw. Buchform veröffentlichen. Und eine von ihm im Frühjahr organisierte internationale Tagung zum Thema Säkularität hat ihm viel Anerkennung eingetragen.

«uniaktuell»: In der Forschung steckt viel Herzblut und Leidenschaft. Was ist Ihre Leidenschaft?
Ich will hinterfragen, verstehen und vermitteln. Die moderne und gegenwärtige islamische Kultur- und Geistesgeschichte ist das Forschungsgebiet, an dem ich diese Leidenschaft auslebe. Wenn zum Beispiel das Andere – im Unterschied zum Eigenen – auf seine Andersartigkeit festgelegt werden soll, dann ist es spannend, nach den Gründen zu suchen. Die betonten Unterschiede entpuppen sich beim näheren Hinsehen häufig als weniger grundlegend, und es gibt vielleicht sehr viel mehr strukturelle Gemeinsamkeiten, als wir denken. Wenn ich mit meiner Forschung gängige Annahmen hinterfragen und zu einer differenzierteren Kenntnis des Eigenen und des Anderen beitragen kann: gut. In meiner Dissertation untersuche ich die islamische Zeitschrift al-Manār, welche zwischen 1898 und 1940 in Kairo erschien und als Sprachrohr des islamischen Modernismus gilt. Ich versuche das dort vertretene Konzept von «Gesellschaft» herauszuarbeiten und in breitere kulturgeschichtliche Entwicklungen einzubetten. Grundannahme ist dabei, dass moderne islamische Kulturgeschichte primär von der Kultur der Moderne und nicht von der islamischen Tradition bestimmt wird.


Neugierig auf das Fremde: Florian Zemmin mit Didgeridoo. (Bilder: Adrian Moser)

Wieso ist Ihre Forschung für die Gesellschaft relevant?
Fragen der Identität und des eigenen Selbstverständnis haben unmittelbare Relevanz für die Sicht auf andere, für das kulturelle Zusammenleben, aber auch für politische Entscheidungen auf der grossen Bühne. Für das Selbstverständnis europäischer Gesellschaften als modern und säkular spielt die Abgrenzung von einem islamischen, rückständigen und religiösen Anderen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Können Sie mir die Mechanismen an einem Beispiel erläutern?
Nehmen wir die Debatte ums Tragen von Kopftüchern: Es gilt in unserer Gesellschaft heute als wichtig, sogenannt «authentisch», also «sich selber» zu sein. Trägt nun aber eine Muslima ein Kopftuch, gilt das aber gerade nicht als authentischer Ausdruck ihrer Individualität, sondern wird primär als politisches Symbol oder aber als Ausdruck von Zwang gedeutet. Die Person unter dem Kopftuch wird so gar nicht wahrgenommen. Dabei verwendet auch sie das Kopftuch häufig als individuellen, authentischen Ausdruck ihrer Identität.

Was wollen Sie persönlich mit Ihrer Forschung erreichen?
Das hoffe ich bereits beantwortet zu haben. (lacht)

Warum haben Sie sich für Ihr Forschungsgebiet entschieden?
Es ist die Allgegenwärtigkeit und Relevanz des Fragekomplexes, die mich interessieren. Da stecken grosse Fragen dahinter, die meiner Meinung nach (noch) nicht überzeugend beantwortet sind.

Sie haben eine lange Karriere vor sich – welches sind Ihre nächsten Schritte?
Nach Abschluss meiner Dissertation würde ich gerne die dort erarbeiteten Befunde und Hypothesen zur islamischen Kulturgeschichte der Moderne im Rahmen eines grösseren Projekts auf eine breitere Grundlage stellen. Zumindest einen Teil der Post-Doc-Phase möchte ich im Ausland verbringen; ideal wäre es, wenn der Auslandsaufenthalt in ein längerfristiges Projekt an der Universität Bern eingebettet werden könnte.

Wer ist ihr Vorbild?
Die Anwendung sozial- und kulturwissenschaftlicher Methoden auf islamische Forschungskontexte ist stark mit dem Namen von Reinhard Schulze verbunden. Seine Forschung war denn auch der zentrale Grund, warum ich mich für ein Masterstudium in Bern entschieden habe. Inzwischen wurde dieser Forschungsansatz im Schwerpunkt «Soziale Ordnung und epistemische Brüche in islamischen und anderen nahöstlichen Traditionen» institutionalisiert. Das Besondere hieran ist der Versuch, die islamische und nahöstliche Traditionsgeschichte einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen und neu zu modellieren. Was mich fasziniert, ist der interdisziplinäre Austausch: Die Tagung zur Säkularität zum Beispiel hat gezeigt, welches Potenzial entsteht, wenn Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Disziplinen ihre Sichtweisen einbringen und eine Vermittlung über Fachgrenzen hinweg stattfinden kann.

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