Hinschauen bei Übergriffen in der Seelsorge
Missbrauchsfälle in Seelsorge und Beratung kommen immer wieder vor, wurden bisher aber zu wenig thematisiert. Dem will eine Tagung der Theologischen Fakultät der Universität Bern entgegenwirken. An dieser wurden auch Lösungsvorschläge für die Verhinderung von Missbräuchen diskutiert.
Vor drei Jahren wurde der schwerste Missbrauchsfall der Schweiz publik: Ein Sozialtherapeut hat während fast 30 Jahren mehr als 110 Menschen mit Behinderungen sexuell missbraucht. Auch im Bereich der Kirche werden immer wieder Missbrauchsfälle bekannt. Sexuelle Ausbeutung ist dabei eine Möglichkeit des Missbrauchs, die Palette ist aber breiter: «Grenzverletzungen bei Seelsorgegesprächen passieren zum Teil sehr subtil. Sie beginnen dann, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis genutzt wird, um persönliche Defizite zu decken», erklärte Isabelle Noth von der Universität Bern. Die Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik hat die Tagung «Schaut hin!» zur Missbrauchsprävention in Seelsorge, Beratung und Kirchen organisiert. Thematisiert wurde unter anderem die Charta Prävention, die als Folge des einleitend erwähnten Missbrauchsfalls von zwölf Verbänden, Organisationen und Institutionen erarbeitet wurde.

Enttabuisierung von Grenzverletzungen
«Grenzverletzungen in seelsorgerlichen Beziehungen sind eine unterschätzte Tatsache», stellte Thomas Wild, Seelsorger am Inselspital, fest. Der Pfarrer mit einem MAS in Seelsorge und Pastoralpsychologie (PCPP) der Universität Bern sprach an der Tagung über «Risikofaktoren und Risikomanagement seelsorgerlicher Beziehungen». Er wies darauf hin, dass sich Seelsorge und Beratung durch einen hohen Intimitätsgrad bezüglich der Inhalte und durch wenig definierte Strukturen auszeichnen. Komme es zu einem emotionalen oder sexuellen Übergriff, sei oft nicht ein einzelner Faktor entscheidend, sondern das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren.
Dazu gehört etwa das starke Machtgefälle von seelsorgerlichen Beziehungen: Der Ratsuchende schenkt der Fachperson aufgrund ihrer Rolle Vertrauen und entwickelt laut Wild oft eine «ausserordentliche» Nähe zum Seelsorger. «Die Fachpersonen sind aufgefordert, sich selber und ihre Emotionen zu reflektieren, um die Grenzen nicht zu überschreiten. Solange sie nicht sensibilisiert sind für Grenzverletzungen, ist dies allerdings schwierig.» Der Pfarrer fordert daher eine Enttabuisierung und überhaupt eine Thematisierung von Grenzverletzungen.
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Strikte Grenzen sind nicht möglich
Dass es tatsächlich zu Grenzüberschreitungen seitens der Seelsorger kommt, liege oft an unerfüllten Bedürfnissen und fehlender Anerkennung. Hinter den Übergriffen sehe man ähnliche Muster wie etwa unbewältigte Trauer, erhöhte Verletzlichkeit aufgrund selber erlebter Übergriffe, Unter- oder Überforderung im Beruf. «Krisen können die eigene Verletzlichkeit aufbrechen lassen», sagte Wild. Wichtig sei jedoch, dass der Seelsorger seine eigenen Probleme nicht vor dem Ratsuchenden offen legt, auch wenn dies vielleicht als Beweis des Vertrauens verstanden werde. «Letztlich ist es Teil einer Strategie. Denn lange bevor die Grenzverletzung stattfindet, spielt sie sich in den Gedanken und Überlegungen der Fachperson ab.»
Die Festlegung von Grenzen und die Definition von Grenzüberschreitungen im Kontext der Kirche findet der Berner Seelsorger ein schwieriges Thema. «Es braucht einen flexiblen Umgang mit Grenzen, denn die strikte Trennung von Therapie und Privatem ist nicht immer möglich.» Als Beispiel führt er den Seelsorger auf dem Land an, da man sich im Dorf regelmässig treffe oder zumindest sehe.

Strafregisterauszug und Gesprächs-Dokumentation
An der Tagung wurden unterschiedliche Lösungsvorschläge diskutiert: Während etwa Isabelle Noth bei der Aus- und Weiterbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern ansetzen will, betonte Werner Tschan vom Basler Beratungszentrum für sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen (BSGP) die Wichtigkeit von Anlaufstellen für Opfer. Er schlug ausserdem vor, dass bei Bewerbungen ein Strafregisterauszug vorgelegt werden müsse. «Dies verhindert aber nicht jeden Fall, weil nur rechtskräftige Verurteilungen drin stehen. Daher könnte man auch bei bestehenden Mitarbeitenden regelmässig den Auszug verlangen», so Tschan.
Im Seelsorgeteam des Inselspitals werden bereits erste Massnahmen umgesetzt. So dokumentiert das Team unter anderem die Seelsorgegespräche, weist seine Arbeitszeiten aus und reglementiert die Nachsorge der Patientinnen und Patienten. «Wir führen noch maximal ein bis zwei Gespräche nach dem Austritt und werben nicht für unsere anderen psychosoziale Angebote», erläutert Thomas Wild. An Sitzungen sprechen die Spitalseelsorgerinnen und -seelsorger ausserdem über ihre Fälle und reflektieren Themen wie Nähe und Distanz. «Da beginnt für mich im Kleinen schon die Prävention», so Wild.