Mitten in Europa – die Schweiz

Der Berner Historiker André Holenstein beschreibt die Geschichte der Schweiz als Wechselspiel von Verflechtung und Abgrenzung. Das Buch bietet in der aktuellen Debatte auch neue Einsichten zum Verhältnis Schweiz – EU und wird am 10. November in der UniS vorgestellt.

Interview: Marcus Moser 07. November 2014

«uniaktuell»: André Holenstein, Sie schreiben, die Schweiz sei das europäischste Land des Kontinents. Wollen Sie in der aktuellen Situation provozieren?
André Holenstein: Es geht mir keinesfalls um Provokation, sondern um historisch informierte Orientierung. Die europapolitische Debatte der Politiker und in den Medien leidet an einem Mangel an historischer Tiefenschärfe.

Warum ist denn die Schweiz – mit historischer Tiefenschärfe – das europäischste Land des Kontinents?
Wer die Sackgassen der Nationalgeschichte verlässt, wird erkennen, dass Schweizer Geschichte die Geschichte eines Raumes ist, der sich in jahrhundertelanger Auseinandersetzung mit seinem geopolitischen Umfeld nach und nach formierte sowie politisch und territorial abgrenzte. Der Kleinstaat Schweiz entstand mitten auf dem Kontinent an den wichtigen Verkehrswegen zwischen Nord und Süd, West und Ost, er entstand in der Kontaktzone dreier grosser Sprach- und Kulturräume sowie im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten und damit auch in direkter Nachbarschaft zu den Kriegsschauplätzen der europäischen Geschichte. Die Existenz der Schweiz gründet in einer besonderen Lage in Europa, sie ist das Resultat europäischer Kräfte und Konstellationen. Europäisch ist die Geschichte dieses Landes schliesslich auch in der Hinsicht, als es das einzige Land Europas ist, das seine Staats- und Nationenbildung einem Integrationsprozess verdankt, der in vielem mit dem europäischen Einigungswerk der letzten Jahrzehnte vergleichbar ist.

Geschichtsprofessor André Holenstein
Bezeichnet die Schweiz als europäischstes Land des Kontinents: Geschichtsprofessor André Holenstein. Bilder: Marcus Moser

Sie beschreiben die Geschichte der Schweiz als Wechselspiel von Verflechtung und Abgrenzung und sehen gerade darin die «condition d’être» der Schweiz. Warum?
Schweizer Geschichte ist die Geschichte eines Raumes, der wesentlich aus der Dialektik zwischen Verflechtung und Abgrenzung entsteht. Dieser Raum ist wirtschaftlich seit der frühen Neuzeit stark mit dem europäischen Umfeld verflochten. Söldner und Handwerker sind Arbeitsmigranten, die in den umliegenden Ländern ein Auskommen finden. Künstler, Gelehrte und Hauslehrer verlassen das Land mangels geeigneter Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Vieh- und Käsewirtschaft exportiert Fleisch und Käse nach Oberitalien und Frankreich und ist dafür auf den Import grosser Mengen Salz aus dem Ausland angewiesen. Die Verlags- und Heimindustrie des 16. bis 18. Jahrhunderts verarbeitet Rohstoffe, die von weit her importiert werden – Rohseide, Baumwolle, Edelmetalle und Edelsteine – und exportiert ihre Waren – Textilien, Uhren, Schmuck – wiederum ins Ausland, weil der schweizerische Binnenmarkt dafür viel zu klein ist.

Soweit zur Verflechtung. Und die Abgrenzung?
Im starken Gegensatz zu dem, was dieses Land tut, steht die Art und Weise, wie dieses Land – wiederum seit Jahrhunderten – über sich und über seinen Platz im weiteren europäischen Umfeld nachdenkt. Mangels einer starken einigenden Nationalidee wie Sprache, Kultur, Ethnie, Konfession oder eine regierende Dynastie definiert sich dieses Land immer wieder durch starke geistige und mentale Abgrenzungsbewegungen gegenüber dem Ausland und dem Fremden. Dies beginnt schon beim Gründungsmythos, der die Gründung der Eidgenossenschaft auf die drei Eidgenossen auf dem Rütli zurückführt, die sich mit ihrem Schwur im Kampf gegen böse, fremde Adlige verbunden haben sollen. Eine weitere starke Abgrenzungsbewegung gegenüber dem geopolitischen Umfeld vollzieht die Schweiz auch mit ihrem rigorosen Neutralitätsverständnis.

André Holenstein
Für André Holenstein ist klar: Integrationsprozesse brauchen Zeit.

Verflechtung und Abgrenzung sind demnach die beiden Seiten der Medaille Kleinstaat Schweiz. Dennoch ist es über die Jahrhunderte gelungen, höchst unterschiedliche und zerstrittene Gemeinwesen in eine gemeinsame stabile politische Ordnung einzubinden. Welche Faktoren gaben den Ausschlag?
Ich sehe innere und äussere Faktoren am Werk. Im Innern war die Eidgenossenschaft bis 1798 ein disparates Konglomerat von 13 Klein- und Kleinststaaten, die sich auf die Durchsetzung weniger gemeinsamer Interessen – Sicherheit über äussere Allianzen, Ruhe und Ordnung im Innern – verständigten, ansonsten aber eifersüchtig eine maximale Autonomie wahrten. Deshalb tat sie sich mit der Integration neuer Mitglieder und mit der Etablierung einer übergeordneten Bundesgewalt enorm schwer. Dies gelang ihr zwischen 1798 und 1848 nur mit starker Unterstützung der europäischen Mächte, die eine neutrale Schweiz mitten in Europa für die Stabilisierung des kontinentalen Mächtegleichgewichts benötigten.
Der innerschweizerische Einigungsprozess hat Jahrhunderte gedauert. Demgegenüber ist das europäische Einigungswerk vergleichsweise jung. Gibt es für Sie Punkte, welche die EU im aktuellen Prozess aus der Vergangenheit der Schweiz lernen kann?
Eine wichtige Erfahrung des schweizerischen Integrationswerks ist sicher die, dass solche Prozesse viel Zeit benötigen und es immer wieder zu Rückschlägen kommt. An eine andere Lehre hat neulich der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer in seinem Buch «Scheitert Europa?» erinnert. Er empfiehlt der EU die Schweiz als das einzige funktionierende föderale Modell, das den Gegebenheiten in der Union entspricht.

Die Einigungsprozesse der Schweiz und der EU weisen respektable Übereinstimmungen auf. Warum hat die Schweiz denn so grosse Angst vor der EU?
Ich zitiere nochmals Joschka Fischer. Er führt die mehrheitliche Ablehnung der EU in der Schweizer Bevölkerung darauf zurück, dass man in diesem Land ahne, dass das EU-Europa dabei sei, zu «verschweizern» und die Schweiz damit ihr exklusives Anderssein verlöre. Dieser Befürchtung könnte man allerdings die Vision des Schweizer Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli entgegensetzen. Schon im 19. Jahrhundert meinte dieser, die Schweiz dürfe es als höchstes Ziel ihrer Staatsidee betrachten, dass ihre «internationale Schweizernationalität» dereinst in der umfassenderen europäischen Gemeinschaft aufgehen werde.

Karte
Mitten in Europa – die Schweiz. Bild: zvg

Weiterführende Informationen

Buchpremiere «Mitten in Europa»

Autor André Holenstein stellt sein Buch im Gespräch mit dem Historiker Thomas Maissen und dem BZ-Journalisten Stefan von Bergen vor.

Montag, 10. November 2014, 18.30 Uhr, Universität Bern, UniS, Raum A003

Der Anlass ist öffentlich, der Eintritt frei.

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