Auf den Spuren der «wandernden Völker»
Der Niedergang des Römischen Reiches ging mit riesigen Migrationsströmen, der sogenannten Völkerwanderung, einher. Der Berner Historiker Christian Rohr räumte an einem Vortrag des Berner Mittelalter Zentrums mit alten Mythen über diese Ära auf.
Das Thema Migration ist derzeit in aller Munde. So beschwören Medien und rechte Parteien oft eine «neue Völkerwanderung» der Armen dieser Welt gen Norden herauf. Die namensgebende ursprüngliche Völkerwanderung im spätantiken Europa wird indes schon seit Jahrhunderten teils kontrovers diskutiert, wie der Berner Historiker Christian Rohr an der Ringvorlesung des Berner Mittelalter Zentrum verdeutlichte.
Eines vorweg: Der deutsche Begriff Völkerwanderung ist erstmals 1778 beim Historiker Michael Ignaz Schmidt belegt, wie Rohr in seinem Vortrag erläuterte: «Aus der Antike selbst und dem Mittelalter ist er nicht überliefert.» Die Ära zwischen 200 und 600 nach Christus wurde unter anderen Bezeichnungen aber bereits im 16. Jahrhundert thematisiert, wobei die Gelehrten damals von den Einfällen der gentes, der Heiden oder Barbaren schrieben, welche die römische Kultur zerstört hätten.
Christian Rohr: «Aus der Antike ist der Begriff Völkerwanderung nicht überliefert.» (Bild: Martin Zimmermann)
«Wanderlawinen» wegen Klimaabkühlung
Die heutige Forschung geht vom Modell der sogenannten Wanderlawine aus: Teile eines Stammesverbandes gehen auf Beutezug oder Wanderschaft. Bei Erfolg schliessen sich ihnen weitere Gruppen an, wobei die neue, grosse Gruppe, den Namen ihres Traditionskerns behält. Bei Misserfolgen zerfällt die Gruppe wieder.
Die Ursachen für die Migrationsbewegungen zwischen Spätantike und Mittelalter waren laut Christian Rohr so vielfältig wie heute. Eine Rolle spielte eine Klimaabkühlung in Europa ab dem 3. Jahrhundert, welche den Ackerbau beeinträchtigte. Einfälle anderer Völker, etwa der berühmt-berüchtigten Hunnen in Osteuropa, lösten Flüchtlingsströme aus. Junge Stammesfürsten wiederum versuchten, ihre Herrschaft durch erfolgreiche Eroberungszüge zu festigen.
Teilweise erfolgten die Umsiedlungen gar gezielt: Weil sie ihr Riesenreich wegen des Bevölkerungsrückgangs nicht mehr alleine beschützen konnten, siedelten die Römer gegen Ende des 4. Jahrhunderts Franken und Westgoten als Grenzschützer an – die dann als Reaktion auf ausbleibende Lohnzahlungen oft Raubzüge unternommen hätten, so Rohr.
In spätantiken Gräbern – wie hier aus Österreich – wurden oft Beigaben verschiedener Volksgruppen gefunden. (Bild: Stadtkommunikation Linz)
Verteufelung und Überhöhung
Einen bis heute besonders schlechten Ruf geniesst das Volk der Vandalen, dem allerlei Grausamkeiten nachgesagt wurden. «Die Zeit der Völkerwanderung ging allerdings oft mit Kriegen und Plünderungen einher», sagt Christian Rohr. «Die Vandalen waren wohl weder besser noch schlechter als ihre Zeitgenossen.» Ihre Verteufelung habe nicht zuletzt einen religiösen Hintergrund gehabt, da sie nicht Katholiken waren, sondern der christlichen Sekte der Arianer angehörten.
Im Gegensatz dazu versuchten ab dem späten 19. Jahrhundert nationalistische Kräfte, den Mythos von homogenen «wandernden Völkern» zu konstruieren. Archäologische Grabungen aus der Zeit des Nationalsozialismus etwa hätten aber gezeigt, dass diese Gruppierungen oft multiethnisch zusammengesetzt waren, erklärt Rohr. So wurden demnach in Gräbern Christen neben Nicht-Christen sowie Goten neben Bajuwaren und Hunnen gefunden. «Diese Resultate passten natürlich nicht zur NS-Ideologie und wurden unter Verschluss gehalten.»
Ein ostgotischer «Römer»: Münze König Theoderichs. (Bild: Wikimedia Commons)
Frühe Integrationsversuche
Die wandernden Neuankömmlinge versuchten teilweise sich zu integrieren und zu assimilieren. Christian Rohr spricht von Parallelen zur Gegenwart: Es gebe sowohl Hinweise für eine Verschmelzung verschiedener Kulturen wie auch für ein Nebeneinander der Volksgruppen. «Tendenziell», so Rohr, «war der Austausch in adeligen Schichten grösser als unter der einfachen Bevölkerung.» Statt sie zu zerstören, wie behauptet, hätten manche «Barbaren» versucht, die alte römische Kultur fortzuführen.
Er schildert das Beispiel des Ostgotenkönigs Theoderich. Während der Herrschaft über Rom um das Jahr 500 herum bemühte sich dieser um einen römischen Lebensstil und stellte sich zwecks Legitimation in die Tradition der alten Kaiser – freilich mit beschränktem Erfolg, wie der Historiker berichtet: «Einer seiner römischen Kritiker warf Theoderich vor, so ungebildet zu sein, dass er seine Erlasse nur mit Hilfe von Wort-Schablonen ausfüllen könne.»