«Das Recht des Anderen, anders zu sein»
Was ist Toleranz, was ist Intoleranz? Diese scheinbar klaren Begriffe können je nach Zeitalter und Kulturkreis unterschiedliche Bedeutungen haben, wie der deutsch-tunesische Philosoph Sarhan Dhouib am Mittwoch, 7. Oktober an einem Vortrag am «Collegium generale» aufzeigte.
Die Begriffe Toleranz und Intoleranz haben in den Zeiten von «Masseneinwanderung», Globalisierung und religiösen Konflikten in der öffentlichen Debatte Konjunktur. Trotz seiner Wichtigkeit ist die Bedeutung dieses Begriffspaars jedoch unscharf: Über Zeit- und Kulturgrenzen hinweg kann sie sich stark verändern. Das veranschaulicht der deutsch-tunesische Philosoph Sarhan Dhouib an einem gut besuchten Vortrag am «Collegium generale». Thema: der Wandel, dem die Toleranz-Idee in der arabischen Moderne unterworfen ist.
Der gebürtige Tunesier mit Forschungsschwerpunkt arabisch-islamische Philosophie stützt sich dabei auf die Texte arabischer Autoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; einer Epoche, die heute als Nahda, als «arabische Renaissance», bekannt ist. Trotz dieses regionalen Fokus betont Dhouib, dass sich die damalige Diskussion um Toleranz und Intoleranz nicht auf den arabischen Raum beschränkte, sondern wie die heutige global geführt wurde: «In Südamerika zum Beispiel debattierten die Gelehrten genau so wie in Europa oder eben im sogenannten Orient, wie man den nahen und mittleren Osten damals in Europa nannte.»
Positive Intoleranz?
Am Anfang von Sarhan Dhouibs Ausführungen steht der alte arabische Toleranzbegriff Tasāhul. Dieser war anfänglich religiös-juristisch geprägt, wie der Philosoph sagt. «Es ging hierbei um die Duldung von Dhimmis, schutzbefohlenen Nicht-Muslimen, in mehrheitlich islamischen Gesellschaften.» Intoleranz (Taʿaṣṣub) sei in diesem Kontext nicht unbedingt ein negativ behaftetes Gegenstück zur Toleranz – sprich: In-toleranz. Taʿaṣṣub bezeichne eher eine Art Gruppensolidarität, etwa der arabischen Muslime gegenüber ihren europäischen Kolonialherren, und sei somit durchaus positiv konnotiert.
Laut Dhouib stellte erst der syrisch-libanesische Autor und Journalist Adīb Isḥāq 1874 das Begriffspaar einander als binäres System gegenüber. Toleranz verstand Isḥāq demnach als Konzept des gegenseitigen Erleichterns. Intoleranz bezeichnete er hingegen als «Exzess im Glauben und Meinen bis hin zur parteiischen Ablehnung derjenigen, die eines anderen Glaubens und einer anderen Meinung sind». Der Paradigmenwechsel Isḥāqs ebnete im frühen 20. Jahrhundert schliesslich dem heute im Arabischen gebräuchlichen binären Toleranzbegriff den Weg: Tasāmuḥ, respektive Lātasāmuḥ für Intoleranz.
Gott und die vier streitenden Männer
Noch radikaler argumentierte um 1900 der ebenfalls aus dem heutigen Libanon stammende maronitische Autor Amīn Rīḥānī. Dieser nutzte die Diskussion um Toleranz und Intoleranz als Ausgangspunkt für eine allgemeine Religionskritik im Geiste der Aufklärung. Diese verpackte er in einer an Lessings «Nathan der Weise» erinnernden Parabel: Vor Gottes Thron standen vier Männer, die einander «böse und eifersüchtig» anblickten. Die vier Männer, Vertreter des Christentums, des Islam, des Judentums und des Buddhismus, störten mit ihrem permanenten Streit die Ruhe der Engel und baten schliesslich Gott um Hilfe, wie Rīḥānī schreibt: «Der grosse Gott hat sie mit Mitleid und Liebe angeschaut und gesagt: Ihr habt alle Rechte, meine Söhne, ihr habt alle Recht.»
Rīḥānī habe somit das agnostische Prinzip des Nichtwissens eingeführt, erläutert Sarhan Dhouib: «Gott weist die Menschen auf ihr Nichtwissen hin. Sie können somit auch nicht wissen, welche Religion die richtige ist. Die Lösung für dieses Problem ist laut Rīḥānī somit Toleranz gegenüber Andersdenkenden: Man anerkennt das Recht des Anderen, anders zu sein.» Rīḥānīs radikale Ideen sorgten zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung für eine heftige Kontroverse. Seither, schliesst Dhouib bedauernd, werde der Autor in einer breiten arabischen Öffentlichkeit jedoch kaum noch diskutiert.
Zur Person
Dr. Sarhan Dhouib, geboren 1974 im tunesischen Sfax, ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Nach dem Studium der Philosophie an den Universitäten Sfax und Paris 1 – Sorbonne wurde er an der Universität Bremen über Schellings Identitätsphilosophie promoviert. 2011 erhielt er den Nachwuchspreis für Philosophie des Goethe-Institutes. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem die klassische und moderne arabisch-islamische Philosophie, den deutschen Idealismus, die Philosophie der Menschenrechte sowie interkulturelle Philosophie.
«Collegium generale»
Das «Collegium generale» bespricht im Herbstsemester 2015 an seiner öffentlichen Vorlesungsreihe Fragestellungen zu Toleranz und Intoleranz in den Religionen und schlägt dabei einen Bogen vom Römischen Reich über das europäische Mittelalter bis in die laizistische Gesellschaft der Gegenwart.
Ort und Zeit
Mitwoch, 18.15 bis 19.45 Uhr
Hauptgebäude der Universität, Hochschulstrasse 4, 3012 Bern
Auditorium maximum, Raum 110