Ende des Dornröschenschlafs
Er will historische Zeitungen wachküssen: Christian Lüthi, Leiter der Abteilung Ressourcen der Universitätsbibliothek, sprach im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Buch am Mittag» in der Unitobler über die Digitalisierung von historischen Zeitungen in der Schweiz und im Ausland.
Als erste Bibliothek in der Schweiz hat die Universitätsbibliothek Bern 2006 begonnen, historische Zeitungen zu digitalisieren. Christian Lüthi, Leiter der Abteilung Ressourcen, ist publizierender Historiker mit Fokus auf Bern und zuständig für die Digitalisierungsprojekte der Universitätsbibliothek. Die Bestände der wichtigsten Berner Tageszeitungen, die zukünftig digitalisiert werden sollen, befinden sich im Besitz der Universitätsbibliothek und schlummern beispielsweise auf dem vonRoll-Areal im Speichermagazin.
Rekonstruktion und Dokumentation der Vergangenheit mithilfe von Zeitungen
Lüthi unterstrich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Zeitungen. Als Zeitung gilt eine Publikation, die öffentlich zugänglich ist, einen Aktualitätsbezug hat und die regelmässig erscheint. Zeitungen sind grossformatig, haben ein komplexes Layout und bestehen aus einer Mischung aus redaktionellem Teil und Werbung, respektive Anzeigen. Die ersten Zeitungen erschienen im 17. Jahrhundert, ihre Blüte erlebten sie im 19. und 20. Jahrhundert.
Nicht nur sind Zeitungen wertvolle Informationsquellen, oftmals sind sie der Schauplatz öffentlicher Debatten, und nur anhand ihrer Lektüre lassen sich gewisse Gegebenheiten rekonstruieren. So erzählte Lüthi, dass im Jahr 1892 die Diskussion darüber, ob eine Brücke beim Waisenhausplatz oder bei Kornhausplatz gebaut werden solle, eben auch in den damals erschienen Zeitungen geführt wurden. Lüthi zitierte an dieser Stelle Schopenhauer: «Zeitungen sind die Sekundenzeiger der Geschichte.» In diesem Sinne gelten historische Zeitungen als unverzichtbare Quellen zur Dokumentation der Vergangenheit; der erleichterte Zugang zu ihnen ist also von öffentlichem Interesse.
Herausforderungen bei der Digitalisierung
Wie Lüthi augenzwinkernd ausführte, ist es aber eben mit einem Kuss nicht getan, wenn Zeitungen, die teils mehrere hundert Jahre alt sind, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Herausforderungen bei der Digitalisierung von historischen Zeitungen gibt es zahlreiche. Nicht nur sind die Originale teilweise gar nicht mehr vorhanden, oft befinden sie sich in konservatorisch schlechtem Zustand. Soll eine Zeitungsseite im Originallayout und im Volltext digitalisiert werden, kann sie nicht einfach eingescannt werden. Zunächst muss definiert werden, wo ein Artikel beginnt und endet, welche Textteile Titel und Untertitel sind. Zudem müssen Artikel von Anzeigen abgegrenzt werden, Bilder gereinigt und ausgerichtet werden. Auch werden auf einer Zeitungsseite oft verschiedene Schriften verwendet, die vom Texterkennungsprogramm erkannt werden müssen. Probleme bereiten auch Zeitungen, die zur Aufbewahrung im Archiv zusammengefügt und dabei mit Nägeln durchbohrt wurden und die zum Einscannen nicht ganz geöffnet werden können. So bleibt ein Teil des Textes im Bund verborgen. Auch wenn auf durchscheinendem Papier gedruckt wurde, gestaltet sich die Texterkennung schwierig.
In vielen herkömmlichen Mediendatenbanken sind heute Zeitungen zu finden, die seit Mitte der 1990er-Jahre erschienen sind. Recherchen, die weiter zurückreichen sollen, gestalten sich derweil mühsam und aufwändig, müssen doch alte Zeitungsbestände oder Mikrofilme konsultiert werden. «Die Digitalisierung im Volltextmodus bedeutet ein Quantensprung in der Zugänglichkeit von historischen Zeitungen,» sagt Lüthi.
Welche Zeitungen sollen in Zukunft digitalisiert werden?
Bereits zugänglich gemacht hat die Universitätsbibliothek auf der Webseite www.digibern.ch 166'000 digitalisierte Seiten des «Intelligenzblatt von und für die Stadt Bern» (erschienen von 1834–1922), welches im 19. Jahrhundert die wichtigste Zeitung im Bereich der lokalen Berichterstattung war. Ebenfalls digitalisiert worden sind 40'000 Seiten der «Gazette de Berne» (erschienen von 1689–1798), die bedeutendste Berner Nachrichtenzeitung im 18. Jahrhundert.
Vor rund einem Jahr hat die Universitätsbibliothek die wichtigsten Zeitungstitel im Kanton eruiert. Bis 2020 möchte sie die wichtigsten Zeitungen aus den Städten Bern, Biel und Thun digitalisieren, die nötigen finanziellen Mittel vorausgesetzt. Dabei sei die Universitätsbibliothek auf die Zusammenarbeit mit Partnern wie der Nationalbibliothek oder mit Verlagen angewiesen, die so auch ihre eigenen Archive erschliessen könnten. Weitere Sponsoren und Förderungsbeiträge von Stiftungen werden nötig sein, um das Digitalisierungsprojekt in Angriff zu nehmen. Als Kandidaten führte Lüthi unter anderen die folgenden Zeitungen auf: Der Bund ab 1850, die Berner Tagwacht von 1893 bis 1997, die Berner Zeitung ab 1888 , die Thuner Zeitungen ab 1838, das Bieler Tagblatt und seine Vorgängerzeitungen ab 1850 oder das Journal du Jura ab 1871.
Auch international laufen zahlreiche Projekte zur Digitalisierung von historischen Zeitungen. Lüthi machte darauf aufmerksam, dass im Ausland oft die Nationalbibliotheken sehr aktiv sind. So hat die British Library 2009 ein 33 Millionen £ teures Digitalisierungsprojekt in Angriff genommen mit dem Ziel, 40 Millionen historische Zeitungsseiten online zugänglich zu machen. Die Bibliothèque nationale de France digitalisiert seit 2005 historische Zeitungen, die Library of Congress hat über 8 Millionen Zeitungsseiten von 1836-1922 digitalisiert. Auch in Österreich, Finnland, Skandinavien, Neuseeland und Deutschland laufen diverse Projekte.
Warum digitalisiert Google keine historischen Zeitungen? Gründe dafür sieht Lüthi in den oben beschriebenen komplexen Herausforderungen bei der Digitalisierung und der Fragilität der Originale. Dass Google keine historischen Zeitungen digitalisiert, sei für die Bibliotheken letztendlich eine Chance, ihr eigenes elektronisches Angebot aufzubauen, findet Lüthi.
Veranstaltungsreihe «Buch am Mittag»
Die Veranstaltung bildete das Saisonfinale der Reihe «Buch am Mittag» vor der Sommerpause. Ab dem 13. Oktober 2015 werden jeweils Dienstags um 12.30 Uhr wiederum kurze Vorträge zu Themen wie Neue Medien, alte Drucke, Kinderbücher oder wissenschaftliche Illustrationen in der Unitobler stattfinden. Das neue Programm wird im September 2015 publiziert.