Sommerserie: Im Himalaja auf der Spur der Sprachen
Seit mehr als dreissig Jahren pendelt Georg van Driem zwischen Europa und dem Hochgebirge Asiens, dokumentiert bedrohte Sprachen, erforscht den interkulturellen Austausch zwischen den Menschen und entnimmt ihnen DNA-Proben, um die Abstammung der Populationen Eurasiens zu rekonstruieren.
1983 trank ich bei den Limbu im Osten Nepals Tongba. Dieses aus gegorener Fingerhirse hergestellte warme Getränk enthält Alkohol – und da man stundenlang mit gespannten Lippen an einem filterhaltigen Saughalm zieht, damit sich die Flüssigkeit vom Matsch löst, besteht die Gefahr, dass man nach einer Weile seinen Daseinszustand unterschätzt.
Solche Erfahrungen machte ich auf meiner ersten Feldforschungsreise als Sprachwissenschaftler vor 33 Jahren. Zwölf Jahre danach folgten mir meine ersten Doktoranden und Doktorandinnen nach. Und jetzt, nach weiteren 20 Jahren, ist ein unsagbarer Schatz an Dokumentationen zusammengekommen, der nicht nur bedrohte Sprachen vor ihrem endgültigen Verscheiden bewahrt hat, sondern auch Aufschlüsse über Vorgänge wie Migrationsverläufe und den interkulturellen Austausch zwischen den Menschen liefert. Seither ist unsere Arbeit weltweit als das «Himalayan Languages Project» bekannt. Zu Beginn befand sich der Sitz im holländischen Leiden, 2010 wechselte er mit meinem Umzug in die Schweiz mit mir zusammen an die Universität Bern.Georg van Driem
Die Faszination am Himalaja liegt in seinen topografischen Massen: In seiner alles umfassenden Grösse beheimatet das «Gebirge des ewigen Weisses» mehr als sechs verschiedene Sprachfamilien und einige Isolate, also Sprachen, die zu keiner anderen eine Verwandtschaft aufweisen. Die Mehrheit der Sprachen gehört zur indogermanischen und zur transhimalajischen Sprachfamilie, den zwei Familien mit den weltweit meisten Sprechern. Zum Indogermanischen gehören Sprachen wie Albanisch, Deutsch, Dänisch, Pashto und Nepali. Das Transhimalajische umfasst Sprachen wie Tibetisch, Birmanisch, Limbu, Shanghainesisch und zweihundert weitere Sprachen. Der Himalaja wird aufgrund seiner komplexen Topografie meist als die grösste Barriere auf unserem Planeten dargestellt. Die historische Forschung lehrt uns aber eines Besseren: Der Himalaja war immer Begegnungs- und gleichzeitig Durchgangszone für etliche Völkerwanderungen. Dabei bot er unterschiedlichste Lebensräume, in denen der Homo sapiens sein Überleben sicherte.
Manche Flüsse sind älter als die Berge
Obschon die allerhöchsten Berge der Welt in der Himalaja-Kette eingegliedert sind, stellt der Himalaja keine Wasserscheidelinie dar. Manche Flüsse sind älter als die Berge selbst. Sie fliessen quer durch den Himalaja hindurch. Als Beispiel sei hier der Kīlī Gandakī in West-Nepal genannt, der auf der tibetischen Hochebene seine ersten Furchen zieht, bis er Gräben reisst und gewaltige Schluchten entstehen lässt. Deshalb bildet der Kālī Gandakī am Fusse des Dhaulāgiris, ein 8000er unter vielen, das tiefste Flusstal auf unserem Planeten und scheidet den Himalaja in zwei Segmente, die je eine Länge von 1800 Kilometern aufweisen. Unsere Sprachforschung erstreckt sich auf beide Segmente, vom Hazārahjāt-Hochland in Afghanistan über die nördlichen Pässe Pakistans und Indiens durch ganz Nepal bis zum Dach der Welt, Tibet, weiter bis zum Liángshān-Gebirge in Sìchuān, den Südwesten Chinas und den nördlichenTeil Birmas. Dabei geht es einerseits um die Erfassung von nicht beschriebenen Sprachen, die Erforschung der linguistischen Verwandtschaftsbeziehungen und des historischen Sprachwandels, andererseits bemüht sich unser Projekt um das Festhalten von Wissen, das in der dortigen Gemeinschaft schlummert.
Vom Himalaja aus in die ganze Welt
In der Rolle des Biologen habe ich gemeinsam mit Genetikern aus verschiedenen Ländern bei vielen Sprachgemeinschaften des Himalajas DNA-Proben entnommen, um die Populationgeschichte Eurasiens zu rekonstruieren. Seit 1997 ist dank einer schweizerisch-italienischen Forschungsgruppe bekannt, dass eine Korrelation zwischen Y-chromosomalen Haplogruppen – also bestimmten Ausprägungen des (männlichen) Y-Chromosoms des Erbguts – und der geographischen Verbreitung von Sprachfamilien besteht. Obschon man beim Begriff «Korrelation» Vorsicht walten lassen muss, sind aufgrund unserer Forschungsergebnisse zu bedeutenden Episoden der sich über Jahrtausende entwickelnden Bevölkerungsgeschichte Tendenzen erkennbar.
Als wichtigstes Ergebnis der historischen Soziolinguistik erachte ich die Entdeckung, dass weltweit und überwiegend die Vatersprache-Korrelation gilt: Dass eine Mutter ihren Kindern die Sprache des Vaters beibringt, scheint in der Geschichte unserer Spezies ein weitverbreitetes und ein wiederkehrendes Phänomen gewesen zu sein. Die Verbreitung und die Gliederung des väterlicherseits vererbten Materials führt zu Genvarianten, die mit einzelnen Sprachfamilien zusammenhängen, woraus man schlussfolgern kann, dass in einer bestimmten Zeittiefe die Abstammung vieler Populationen von Lappland bis zum Feuerland auf den Himalaja zurückzuführen ist. So mussten nicht nur die Vorfahren der Hàn-Chinesen und Javaner, sondern auch der Esten und der Samojeden zu einem bestimmten Zeitpunkt den Brahmaputra-Fluss überqueren.
Nach Tagen im Dickicht ein herzlicher Empfang
Während Blutentnahmen und Wangenabstriche wenig Zeit beanspruchen, ist die Dokumentation einer Sprache in all ihren grammatikalischen Facetten und typologischen Besonderheiten ein langfristiges Projekt, das erst dann erfolgreich realisiert wird, wenn man sich vor Ort in der Sprachgemeinschaft über Jahre hinweg einnistet und Teil von ihr wird. Als ich im Auftrag der bhutanesischen Regierung die erste Grammatik der Nationalsprache aufzeichnete, trug ich statt abendländischer Kleider einen bhutanesischen G’ô. Bei den meisten Forschungsprojekten aber tragen meine Leute und ich einfache Kleider und sind vom letzten Ort, der mit einem Fahrzeug erreichbar ist, noch Tage zu Fuss im Dickicht unterwegs, bis wir inmitten einer exotischen Klangkulisse von den Einheimischen herzlich empfangen werden.
Für die Feldforschung wird vorausgesetzt, dass meine Leute die gängigen Kontaktsprachen wie Dzongkha, Hindi, Nepalesisch, Tshangla, Mandarin oder Birmanisch beherrschen. Diese erlauben uns den privilegierten Zugang zur Kultur, der sich ohne jene Voraussetzung nicht tiefgründig erforschen lässt. Die Linguisten nutzen anschliessend die Gelegenheit, um nebst der Sprachdokumentation auch Beschreibungen der Verwandtschaftsbeziehungen, des Glaubenssystems, der Eschatologie und der Rituale anzufertigen. In der Ergänzung zum Lexikon werden auch mündliche Überlieferungen aufgezeichnet und einheimisches Wissen über Kulturpflanzen und Heilkräuter dokumentiert.
Die jahrelange Forschung hat dazu geführt, dass unser «Driem-Team» – wie Wolfgang Behr von der Universität Zürich jene Konstellation nennt – mit den Einheimischen in engen Kontakt getreten ist und wir ihnen aus Dankbarkeit unsere Herzen geschenkt haben, und sogar nach Projektabschlüssen pendeln unsere Herzen weiter zwischen dem Himalaja und den Schweizer Alpen.
Informationen zum Projekt
Georg van Driem, 57, aus Holland, Professor, Direktor des Instituts für Sprachwissenschaft
Ort:
Himalaja-Gebirge (von Nordwest-Indien, Nepal, Sikkim, Bhutan, Nordost-Indien, Tibet, Südwest-China bis nach Birma)
Projekt:
Das «Himalayan Languages Project» umfasst die Sprachbeschreibung, Kulturgeschichte und Populationsgenetik des Himalajas.
Förderung:
Schweizerischer Nationalfonds SNF, zuvor niederländische Forschungsgemeinschaft, bhutanesische Regierung, niederländisches Aussenministerium, Rolex, European Science Foundation, Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften (KNAW).
Kontakt:
Georg van Driem, Institut für Sprachwissenschaft,vandriem@isw.unibe.ch
Weitere Infos:
Sommerserie: Forschen in der Welt
Sie durchstreifen den Himalaja, tauchen im Tanganyikasee oder wandeln unter indonesischen Palmen: In der «uniaktuell»-Sommerserie «Forschen in der Welt» berichten acht Forscherinnen und Forscher vom Alltag und ihren Erkenntnissen aus aller Welt. Die Berichte sind auch in der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins «UniPress» nachzulesen.