Affen in der Literatur halten unserer Gesellschaft den Spiegel vor

Die aktuelle Vorlesungsreihe des Collegium generale ist dem Thema «Menschen und andere Primaten gewidmet». In ihrem Referat ging Virginia Richter, Professorin für moderne englische Literatur an der Universität Bern, unter anderem der Frage nach, wieso Menschen lange Zeit Angst davor hatten, zum Affen zu werden.

Von Ivo Schmucki 07. Oktober 2016

«Es ist heute für niemanden überraschend zu hören, dass die Differenz in der DNA zwischen Menschen und Schimpansen weniger als zwei Prozent beträgt – aber wir haben auch eine sehr hohe Übereinstimmung im Erbgut mit dem Krallenfrosch und der Qualle.» Als Einstieg ins Referat führt Virginia Richter dem Publikum die enge Verwandtschaft zwischen Menschen und anderen Tierarten vor Augen. Einer Vorlesungsreihe den Titel «Menschen und andere Primaten» zu geben, sei im 21. Jahrhundert nicht einmal mehr besonders provozierend. Doch was heute den meisten selbstverständlich erscheint, hat einen langen Weg zur Akzeptanz hinter sich.

Die grosse Bedeutung der Tiere in der Literatur

Auf diesem Weg spielte die fiktionale Literatur eine bedeutende Rolle. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden Streitfragen der Wissenschaft, wie zum Beispiel Darwins Evolutionstheorie, immer wieder in Romanen und Erzählungen aufgegriffen. Da die Autorinnen und Autoren nicht den Gesetzen wissenschaftlicher Argumentation folgen müssen, nahmen sie gegenüber der Biologie und Zoologie eine kritische Position ein. «So konnten in der Literatur mögliche Konsequenzen der wissenschaftlichen Hypothesen auf kreative Weise diskutiert werden», wie Virginia Richter erklärt.

Um die Bedeutung der Tiere in der Literatur erforschen zu können, hat sich in der Literaturwissenschaft ein eigenes Feld herausgebildet, das «Literary Animal Studies» genannt wird. Tiere werden in der Literatur nicht als biologische Wesen abgebildet, sondern sind menschliche Konstrukte. Virgina Richter streicht speziell die symbolische Bedeutung heraus: «Tiere werden als Mittel der Verfremdung dazu benutzt, eine Aussage über die Menschen besonders deutlich zu machen». Dies erläutert sie anhand von George Orwells berühmten Werk Animal Farm, wo Tiere als metaphorisches Mittel zur Sozialismuskritik eingesetzt werden.

Der Mensch und der Affe: ähnlich und doch verschieden?

Eine Fragestellung der Literary Animal Studies ist, inwiefern sich Mensch und Affe ähneln oder doch unterschiedlich sind. Affen gleichen uns in Körperbau, Gestik und Mimik, und trotzdem sind sie eben nicht ganz gleich. «Die Schimpansenforscherin Jane Goodall schreibt Bücher über Schimpansen, aber Schimpansen schreiben keine Bücher über Jane Goodall», merkt Virginia Richter hierzu scherzhaft an. Die Grenze zwischen Menschlichem und Affenartigem ist verschwommen und verändert sich. «Deshalb fungieren Affen in der Literatur als Denkfigur, an der der Mensch seine eigene Identität oder die Beziehung zum Tier reflektiert.»

Virginia Richter spricht über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und Affen. Im Hintergrund ist die britische Schimpansenforscherin Jane Goodall abgebildet.
Virginia Richter spricht über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und Affen. Im Hintergrund ist die britische Schimpansenforscherin Jane Goodall abgebildet. © Bild: Universität Bern

«Man hatte Angst zum Affen zu werden»

Im zweiten Teil ihres Vortrags widmet sich Virginia Richter den verschiedenen literarischen Bedeutungen der Affen im Verlaufe der Zeit. Im 18. und 19. Jahrhundert trifft der Mensch in fiktiven Reiseberichten aus exotischen Regionen auf den Affen. Allgegenwärtig ist dabei die abstossende und ekelerregende Gestalt dieser Tiere. Virginia Richter formuliert dies treffend: «Bis ins späte 19. Jahrhundert hatte man Angst, zum Affen zu werden».

So trifft in Gulliver’s Travels von Jonathan Swift der Protagonist auf die «merkwürdigen und deformierten» affenartigen Yahoos. Als er auf seine eigene Ähnlichkeit mit diesen Wesen angesprochen wird, verspürt er die Furcht, selbst zum ekelhaften Tier zu werden und seinen Verstand zu verlieren.

Mit Darwin rücken die Affen ins Zentrum der Zivilisation

Mit seiner damals sehr kontroversen Postulierung der evolutionären Entstehung der Arten entflammte Charles Darwin die Diskussion um die Herkunft des Menschen. «Die Evolutionstheorie ist entscheidend in der Beziehungsgeschichte zwischen Affen und Menschen», erklärt Richter. Doch gerade weil Darwin in Über die Entstehung der Arten den Menschen bewusst gar nicht thematisiert, wird dieses Thema in der Literatur umso öfter aufgegriffen. Wo kommt der Mensch her? Wie ist sein Verhältnis zum Affen?

Zur Fülle von Texten, die nach Darwins Werken zur Evolutionstheorie entstanden sind, gehört auch Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde von Robert Louis Stevenson. Affe und Mensch begegnen sich hier nun nicht mehr fernab, sondern mitten in der europäischen Gesellschaft. Die unkontrollierbare Verwandlung von Dr. Jekyll in sein brutales, als affenartig und abstossend beschriebenes Alter Ego Mr. Hyde ist ein weiteres Beispiel für die noch immer präsente Abscheu vor den Affen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Möglichkeit, sich zum Affen zurückzuentwickeln, gilt als unerträgliche Vorstellung. Virginia Richter fasst diese Phase zusammen: «Nach Darwins Evolutionstheorie verkörpert der Affe den unentrinnbaren Ursprung des Menschen aus dem Tierreich.» 

«Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde» ist nur ein Beispiel für literarische Werke, in denen Affen symbolisch verwendet werden.
«Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde» ist nur ein Beispiel für literarische Werke, in denen Affen symbolisch verwendet werden. © Bild: Universität Bern

Vom wilden Tier zum Freiheitssymbol

In der Moderne ab 1900 kam mit den grossen Umbrüchen in Kunst und Literatur auch ein neues Interesse an den Affen auf und die Forschung interessierte sich erstmals für Intelligenz und Verhalten dieser Tiere. In Kafkas Ein Bericht für eine Akademie verwandelt sich der Affe Rotpeter nach und nach in einen Menschen, um seiner Gefangenschaft in einem engen Käfig zu entkommen. «Die Menschwerdung ist hier aber nicht der Aufstieg zur Krone der Schöpfung, sondern eine pragmatische Seitwärtsbewegung, um einer unerträglichen Situation zu entkommen», ordnet Richter das Werk ein. Der Enge des Käfigs entkommen, findet der Affe nicht die Freiheit, sondern Ernüchterung über sein neues Dasein. Umgekehrt kann die Verwandlung eines Menschen zum Affen als Befreiung verstanden werden. Der Affe symbolisiert in dieser Phase das menschliche Unbehagen in der Kultur.

Zum Schluss des Referats wendete sich Virginia Richter der aktuellen Literatur zu: «Affenromane haben Konjunktur». Heute stehen vermehrt Affenforscherinnen und –forscher und das drohende Aussterben der Tiere im Fokus. Als paradox bezeichnet Virginia Richter, dass die Menschen immer mehr über das Verhalten der Affen wissen und dennoch nicht genügend gegen ihr Aussterben unternehmen. Die anschliessenden Fragen aus dem Publikum waren ein gelungener Abschluss der Veranstaltung.

Zum Abschluss des Referats beantwortet Virginia Richter Fragen aus dem Publikum.
Zum Abschluss des Referats beantwortet Virginia Richter Fragen aus dem Publikum. © Bild: Universität Bern

Der Abend mit Virginia Richter erwies sich als spannender Beitrag zur Vorlesungsreihe «Menschen und andere Primaten», die das Collegium generale während dem Herbstsemester anbietet. Weitere Forschende aus dem In- und Ausland werden über eine Vielfalt von Themen referieren. Die Veranstaltungen finden jeweils mittwochs, 18.15 bis 19.45 Uhr, im Hauptgebäude der Universität, Hochschulstrasse 4, 3012 Bern, Auditorium maximum, Raum 110, statt.

Zur Person

Virginia Richter ist seit 2007 Professorin für moderne englische Literatur an der Universität Bern und seit 2014 Dekanin der Philosophisch-historischen Fakultät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die literarische Darstellung von Tieren, Britische Literatur und Kultur sowie das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft.

Das Collegium generale

Das Collegium generale der Universität Bern ist die älteste eigenständige interdisziplinäre Institution der Universität. Es hat die Aufgabe, den fächerübergreifenden Dialog und die inter- und transdisziplinäre Vernetzung innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende und Studierende aller Fakultäten zu fördern. In Veröffentlichungen und allgemeinbildenden Veranstaltungen vermittelt das Collegium generale Beispiele dieser Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit.

Zum Autor

Ivo Schmucki ist Hochschulpraktikant Corporate Communication an der Universität Bern.

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