Ausgezeichnete Gespensterforscherin

Für ihre Dissertation zur Figur des Gespensts in der viktorianischen Literatur wurde Zoë Lehmann Imfeld gestern mit dem Marie Heim-Vögtlin-Preis des Schweizerischen Nationalfonds ausgezeichnet. Im Interview mit «unikatuell» erzählt die junge Forscherin, woher ihr Interesse an Gespenstern kommt und warum sie nun als Postdoktorandin am Center for Space and Habitability CSH tätig ist, wo Exoplaneten und die Möglichkeiten ausserirdischen Lebens aus verschiedenen Perspektiven erforscht werden.

Interview: Brigit Bucher 22. Juni 2016

«uniaktuell»: In Ihrer Dissertation befassen Sie sich mit viktorianischen Gespenstergeschichten, sogenannten Ghost Stories. Wodurch zeichnet sich dieses literarische Genre aus?
Zoë Lehmann Imfeld: Viktorianische Gespenstergeschichten sind deswegen so spannend zu untersuchen, weil sie viel darüber aussagen, wovor man sich zu dieser Zeit fürchtete und was die Menschen beschäftigte. Ende des 19. Jahrhunderts schrieben viele angesehene Autorinnen und Autoren solche Geschichten, sogar jene, die sonst nur realistische Romane verfassten. Es ist faszinierend zu sehen, was dabei herauskommt, wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller der literarischen Elite plötzlich für ein breites Publikum schreiben.

Die Dissertation von Zoë Lehmann Imfeld wird im Juli 2016 im renommierten Verlag Palgrave Macmillan veröffentlicht.
Die Dissertation von Zoë Lehmann Imfeld wird im Juli 2016 im renommierten Verlag Palgrave Macmillan veröffentlicht.

Eine durchaus ernst gemeinte Frage: Ist Ihnen schon einmal ein Gespenst begegnet?
Nein! Und nachdem ich all diese Horrorgeschichten gelesen habe, hoffe ich ehrlich gesagt auch, dass dies nie passieren wird. Eigentlich finde ich die Gespenstergeschichten vor allem interessant, weil sie viel über die menschliche Natur aussagen. Der Aspekt des Wahrheitsgehalts interessiert mich in diesem Sinne eher weniger. In meiner Lesart der Ghost Stories versuchte ich zu zeigen, dass die menschlichen Protagonisten viel wichtiger sind für die Geschichten als die Gespenster oder sonstige Erscheinungen.

Sie haben Englischsprachige Literatur und Theologie studiert. In Ihrer Dissertation schlagen Sie nun eine neue Lesart von Ghost Stories vor, die theologische und philosophische Konzepte anwendet. Inwiefern verändert dies die Interpretation der Geschichten?
Die viktorianische Periode wird oft vor dem Hintergrund der damaligen religiösen Ängste und dem aufkommenden Skeptizismus und Agnostizismus untersucht. Auch die Literaturwissenschaft betrachtet Literatur aus dieser Periode üblicherweise im Zusammenhang mit diesem Skeptizismus. Gemäss meiner Lesart behandelt die Horrorliteratur dieser Zeit aber eigentlich komplexe theologische Themen. Diese gehen jedoch unter, wenn wir uns nicht genügend damit beschäftigen. Historikerinnen und Historiker haben bereits damit begonnen, die viktorianische «religiöse Krise» als etwas Komplizierteres zu betrachten, als wir bis anhin angenommen hatten. Jetzt ist eben die Zeit gekommen, in der Literaturwissenschaft das Gleiche zu tun.

Die ausgezeichnete Gespensterforscherin Zoë Lehmann Imfeld
Die ausgezeichnete Gespensterforscherin Zoë Lehmann Imfeld, Bild: © SNF/Mauro Mellone

Neben Ihrer Tätigkeit als Dozentin am Department of English sind Sie als Postdoktoriende nun am Center for Space and Habitability (CSH), wo Exoplaneten und die Möglichkeiten ausserirdischen Lebens aus verschiedenen Perspektiven erforscht werden. Inwiefern können die Literaturwissenschaft und die Theologie etwas zur Erforschung von Leben im All beitragen?
Befasst sich die Forschung mit potentiell bewohnbaren Planeten ausserhalb unseres Sonnensystems (sogenannten Exoplaneten) und mit Hinweisen auf ausserirdisches Leben, werden unweigerlich philosophische Fragen aufgeworfen. Das CSH hat für das interdisziplinäre Projekt, an dem ich mitarbeite, Forschende aus den Geisteswissenschaften eingeladen, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Ich bin nicht die einzige Nicht-Naturwissenschaftlerin. Andrea Loettgers vom philosophischen Departement und Andreas Losch von der theologischen Fakultät sind auch involviert. Aus meiner literaturwissenschaftlichen Perspektive ist es faszinierend zu sehen, dass tatsächlich viele Themen und Fragen, die im Zusammenhang mit der viktorianischen Literatur thematisiert werden, auch für die Weltraumforschung von Belang sind. Der Mensch hat sich sozusagen damit abgefunden, dass er mit «Ausserirdischem» konfrontiert ist. Ich erforsche vor allem, wie die Literatur – und insbesondere Science Fiction – mit solchen Fragen umgeht und welcher Dialog mit den Naturwissenschaften entfacht werden könnte.

Verleihung des Marie Heim-Vögtlin-Preises an Dr. Zoë Lehmann Imfeld durch Prof. Sabine Schneider, Präsidentin der MHV-Evaluationskommission in Geistes- und Sozialwissenschaften.
Verleihung des Marie Heim-Vögtlin-Preises an Dr. Zoë Lehmann Imfeld durch Prof. Sabine Schneider, Präsidentin der MHV-Evaluationskommission in Geistes- und Sozialwissenschaften. Bild: © SNF/Mauro Mellone

Sie wurden vom SNF mit einem Marie Heim-Vögtlin-Beitrag gefördert und nun mit dem Marie Heim-Vögtlin-Preis ausgezeichnet. Wie wichtig war diese Unterstützung?
Der Marie Heim-Vögtlin-Beitrag ist ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds für Frauen, die wegen Familienverpflichtungen eine Unterbrechung ihrer Karriere in Kauf nehmen oder nehmen müssten. Da ich zwei kleine Kinder haben, habe ich mich für das Stipendium beworben. Mein Doktoratsstudium stellte mich vor finanzielle aber natürlich auch zeitliche Herausforderungen im Zusammenhang mit unserem Familienleben. Der Beitrag ist eine unglaublich wichtige Unterstützung für Akademikerinnen und sollte als ein Juwel in der Krone des Schweizerischen akademischen Systems betrachtet werden. Eine Karriere in der Akademie verlangt viel Hingabe und Energie, und der Marie-Heim-Vögtlin-Beitrag hilft Frauen, diese freisetzen zu können. Ebenso wichtig war aber die Unterstützung meiner Doktoratsbetreuerin Professorin Virginia Richter und des ganzen Departements. Solche Förderbeiträge sind nur von Nutzen, wenn dieselbe Kultur der Förderung auch am Arbeitsplatz gelebt wird.

Zur Person

Zoë Lehmann Imfeld hat Englischsprachige Literatur und Theologie studiert. Für ihre Doktorarbeit, die mit einem Marie Heim-Vögtlin-Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt wird, kombiniert sie die beiden Disziplinen. 2016 wird ihre Dissertation mit dem Titel The Victorian Ghost Story and Theology: From Le Fanu to James im renommierten Verlag Palgrave Macmillan veröffentlicht.. Gegenwärtig ist Zoë Lehmann Imfeld an der Uni Bern als Dozentin am Department of English und als Postdoktorandin am Center for Space and Habitability tätig. Ihre interdisziplinären Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Theologie, Literatur und Philosophie, Fiktionalität, viktorianische Literatur, übersinnliche Literatur, Schauerliteratur und Science Fiction. 

Mehr Informationen zur Publikation

Kontakt:

Dr. Zoë Lehmann Imfeld
Universität Bern
Institut für Englische Sprachen und Literaturen
Telefon direkt: +41 31 631 36 60
Telefon Institution: +41 31 631 82 45
zoe.lehmann@ens.unibe.ch

Center for Space and Habitability (CSH)

Das Center for Space and Habitability (CSH) der Universität Bern bringt Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen aus der ganzen Welt zusammen, um Exoplaneten und die Möglichkeiten ausserirdischen Lebens zu untersuchen und dabei aus interdisziplinären Vernetzungen neue Forschungsperspektiven zu entwickeln. Im Bewusstsein, dass das Thema begriffliche Probleme und fundamentale Fragen des menschlichen Selbstverständnisses aufwirft, hat man darüber hinaus die Literaturwissenschaften, die Philosophie und die Theologie miteinbezogen.

Marie Heim-Vögtlin-Beiträge

Der Schweizerische Nationalfonds SNF vergibt jedes Jahr rund 35 Marie Heim-Vögtlin-Beiträge. Diese unterstützen junge Doktorandinnen und Postdoktorandinnen mit hervorragenden Qualifikationen dabei, den durch ihre familiäre Situation entstandenen Rückstand in der akademischen Laufbahn aufzuholen und ihre Karriereperspektiven zu verbessern.

Der Marie Heim-Vögtlin-Preis zeichnet eine mit diesem Instrument geförderte Forscherin für die herausragende Qualität ihrer Arbeit und ihre Karriereentwicklung aus.

Zur Autorin

Brigit Bucher arbeitet als Stv. Leiterin Corporate Communication an der Universität Bern und ist Redaktorin bei «uniaktuell».

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