«Freiwilliges Engagement ist der soziale Kitt einer Gesellschaft»

Soeben wurden die Ergebnisse des Freiwilligen-Monitors Schweiz 2016 veröffentlicht. Ein Forscherteam des Instituts für Politikwissenschaft der Uni Bern hat die schweizweit grösste Erhebung zum freiwilligen Engagement federführend wissenschaftlich begleitet. Der Forschungsleiter Markus Freitag von der Uni Bern erläutert im Interview mit «uniaktuell» die wichtigsten Erkenntnisse und erklärt, warum in der Deutschschweiz mehr Freiwilligenarbeit als in der französischen oder italienischen Schweiz geleistet wird.

Interview: Brigit Bucher 19. Februar 2016

«uniaktuell»: Wie wird freiwilliges Engagement definiert? Wenn ich mein Patenkind hüte, gilt dies auch als Freiwilligenarbeit?
Markus Freitag: Gemeint ist mit freiwilligem Engagement jede unbezahlte Aktivität, bei der Zeit, Energie oder Geld aufgewendet wird, um einer anderen Person, einer Gruppe oder Organisation zu nutzen. Findet die Tätigkeit im Rahmen von Vereinen und Organisationen statt, sprechen wir von formeller oder institutionalisierter Freiwilligkeit. Auch Spenden von Geld oder Sachmitteln fallen unter diese Definition. Informelle Formen der Freiwilligkeit beinhalten dagegen Tätigkeiten ausserhalb solch fester Organisationsstrukturen, die stärker im privaten und nachbarschaftlichen Bereich aber für Personen aus anderen Haushalten geleistet werden. Wenn Ihr Patenkind also nicht im gleichen Haushalt wie Sie lebt und Sie es hüten, gilt dies als freiwilliges Engagement. Leistungen für Haushaltsangehörige zählen indes zur Haus- und Familienarbeit und sind keine freiwilligen Tätigkeiten

Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus der Umfrage des Freiwilligen-Monitors Schweiz 2016?
Zunächst einmal gilt es hervorzuheben, dass laut den Zahlen des Freiwilligen-Monitors Schweiz 2016 etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Schweiz unentgeltlich Freiwilligenarbeit in- und ausserhalb von Vereinen leistet. Das sind rund 700 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit pro Jahr, was neun Prozent der geleisteten 7700 Millionen Stunden Erwerbsarbeit entspricht. Wir erkennen aber auch Anzeichen eines Rückgangs in der Vereinstätigkeit in den letzten Jahren. Und auch die gegenseitige Unterstützung in der Nachbarschaft ist zurückgegangen, wenn wir die dafür eingesetzte Zeit betrachten. 

Das freiwillige Engagement in der Schweiz, 2006, 2009 und 2014: Anteile der formell Freiwilligen, Ehrenamtlichen, informell Freiwilligen beziehungsweise Spendenden in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren, gewichtete Werte. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016
Das freiwillige Engagement in der Schweiz, 2006, 2009 und 2014: Anteile der formell Freiwilligen, Ehrenamtlichen, informell Freiwilligen beziehungsweise Spendenden in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren, gewichtete Werte. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016

Wer ist denn freiwillig tätig?
Ein freiwilliges Engagement ist im allgemeinen eher bei Personen üblich, die in der Deutschschweiz und auf dem Land leben, eine gute Bildung aufweisen, mittleren Alters sind und schulpflichtige Kinder haben,. Eine Einbindung im Familien- und Freundeskreis oder im beruflichen Umfeld unterstützt diesen unbezahlten Dienst zur Förderung des Gemeinwohls. Dazu haben wir erfahren, dass Freiwillige im Gegensatz zu Nicht-Freiwilligen eher aktive, gesellige und freundliche Menschen von hoher Belastbarkeit und Stressresistenz sind.

Gibt es auch bezogen auf das Alter der Freiwilligen Unterschiede?
Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich vor allem jüngere Menschen aus der Vereinstätigkeit zurückziehen. Gleichzeitig nutzen sie im Vergleich zu älteren Erwachsenen aber viel häufiger das Internet für ihre unbezahlten Tätigkeiten. Jüngere Menschen verbinden ihr freiwilliges Engagement weiterhin stärker mit einem persönlichen Nutzen als ältere Generationen. Während freiwillige Tätigkeit für letztere verstärkt eine Herzensangelegenheit ist, stellt die Generation Y eher egotaktische Überlegungen an. Für die Jungen sind Aspekte, die das freiwillige Engagement mit Qualifikation, Weiterbildung und persönlicher Bereicherung verbinden, deshalb wichtiger als für die älteren Generationen. 

Es fällt auf, dass in der Deutschschweiz der Anteil der formell tätigen Freiwilligen höher ist als in der französischen oder der italienischen Schweiz. Worauf führen Sie dies zurück?
Zum einen dürfte der höhere Stellenwert familiärer, verwandtschaftlicher sowie enger freundschaftlicher Bindungen in den lateinischen Sprachregionen das freiwillige Engagement in formellen Organisationen einschränken. Zum anderen spiegeln sich ungleiche Wahrnehmungen zur Rolle des Staates in einem unterschiedlichen Grad an gesellschaftlicher Selbstorganisation und somit auch an freiwilligem Engagement wider. Schliesslich schafft die ausgeprägte direkte Volksmitsprache in der Deutschschweiz Anreize zur vereinsmässigen Bündelung und Organisation gesellschaftlicher Interessen.

Formell freiwilliges Engagement in den Sprachregionen, 2009 und 2014: Anteile formell Freiwilliger beziehungsweise Ehrenamtlicher in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren nach Sprachregion, gewichtete Werte. Schraffierte Balken: In der italienischen Schweiz finden sich in den Erhebungen 2009 und 2014 weniger als 30 Ehrenamtliche. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016
Formell freiwilliges Engagement in den Sprachregionen, 2009 und 2014: Anteile formell Freiwilliger beziehungsweise Ehrenamtlicher in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren nach Sprachregion, gewichtete Werte. Schraffierte Balken: In der italienischen Schweiz finden sich in den Erhebungen 2009 und 2014 weniger als 30 Ehrenamtliche. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016

Und wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?
Laut den jüngsten Zahlen belegt die Schweiz im europäischen Vergleich eine Spitzenposition im Bereich des freiwilligen Engagements und zählt zusammen mit Deutschland und den Niederlanden zu den Ländern mit den höchsten Freiwilligenraten.

Erstmals wurde auch das freiwillige Engagement im Internet erforscht. Warum dies? Und welche Tätigkeiten fallen darunter?
Wie keine andere technologische Entwicklung zuvor strukturiert das Internet unsere Freizeit und unseren beruflichen Alltag. Mittlerweile nutzen rund 90 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung das Internet. Gemäss unserer Erhebung engagiert sich etwa ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung auf mindestens eine Art online freiwillig. Freiwilliges Engagement im Internet erfordert in der Regel wenig Koordination. Beispiele sind das Gründen und Moderieren von Facebook-Gruppen, die Pflege von Webseiten von Vereinen oder Organisationen oder das Aufbereiten von Informationen, die Bereitstellung von Expertisen oder die Beratung über das Internet. Auch Spenden wie das Crowdfunding für ein online lanciertes Projekt oder eine Aktion gehören dazu.

Freiwilliges Engagement im Internet nach Tätigkeitsbereich, 2014: Anteile online Freiwilliger in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren nach Tätigkeitsbereich (Mehrfachantworten möglich), gewichtete Werte. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016
Freiwilliges Engagement im Internet nach Tätigkeitsbereich, 2014: Anteile online Freiwilliger in Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahren nach Tätigkeitsbereich (Mehrfachantworten möglich), gewichtete Werte. © SGG, Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016

Warum ist das Wissen über Freiwilligenarbeit überhaupt wichtig?
Das Spektrum möglicher Formen von Freiwilligentätigkeit erstreckt sich vom Engagement in Sport-, Hobby- und Freizeitvereinen, unentgeltlicher Arbeit im sozialen, gesundheitlichen oder kulturellen Bereich, über die freiwillige Übernahme politischer Ämter bis hin zur gegenseitigen Hilfe unter Nachbarn. Diese Vielfalt an Tätigkeiten macht deutlich, dass Freiwilligkeit aus der Gesellschaft nur schwerlich wegzudenken wäre, ohne gleichzeitig einen schmerzlichen Verlust an Vielfalt und vor allem an Qualität des öffentlichen Lebens in Kauf zu nehmen. Kenntnisse über die Freiwilligen und deren Motive können helfen, sich abzeichnende Rückgänge im Engagement einzuordnen und mitunter zu begrenzen.

Inwiefern fördern freiwillige Engagements den Zusammenhalt einer Gesellschaft? Sind sie auch von Bedeutung für das Funktionieren unserer Demokratie?
Das über alle Individuen aggregierte Ausmass an unbezahlter Tätigkeit kann durchaus als Indiz eines gesellschaftlichen Grades an Altruismus und Gemeinwohl gewertet werden. Freiwilliges Engagement ist damit so etwas wie der soziale Kitt einer Gesellschaft. Denken wir beispielsweise an die tragende Säule des stark erodierenden Milizsystems. Hier stellen die Bürgerinnen und Bürger nebenberuflich ihre Fähigkeiten und Ressourcen aus dem Zivilleben zur Bewältigung öffentlicher Aufgaben und Funktionen zur Verfügung und bringen damit die Demokratie zum Laufen. Aber nicht nur deshalb sind die Freiwilligen das Lebensblut der Demokratie. Sie sind im Gegensatz zu Nicht-Freiwilligen auch stärker politisch interessiert, beteiligen sich eher an politischen Vorgängen und zeigen eine grössere Gemeinwohlorientierung.

Sind Sie selbst auch freiwillig engagiert?
Neben Spenden und Aushilfen in der Nachbarschaft. gehe ich diversen Tätigkeiten in den Vereinen meiner Kinder nach.

Wie sieht Ihr persönlicher Arbeitsalltag am Institut aus?
Er gleicht demjenigen vieler anderer Kolleginnen und Kollegen an unserer Universität. Ich lese, schreibe, organisiere, tausche mich mit Kollegen und Studierenden aus, gebe ab und zu ein Interview oder halte einen Vortrag. Dazu bin ich ehrenamtlich als geschäftsführender Direktor des Instituts tätig.

Der Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016

Der Freiwilligen-Monitor Schweiz ist ein Umfrageprojekt, welches das Bedürfnis nach zuverlässigen und umfassenden Informationen zum freiwilligen Engagement von über 15-Jährigen in der Schweiz wohnhaften Personen decken soll und welches in vergleichbarer Weise nur in wenigen anderen Ländern existiert. Initiiert wurde das Projekt vor 10 Jahren von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) in Zusammenarbeit mit dem Migros-Kulturprozent. Das Bundesamt für Statistik ist beratend tätig; wissenschaftlich begleitet wird der Freiwilligen-Monitor durch das Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern. Mit dem neuen Monitor und der Befragung von über 5700 Personen wurden bereits zum dritten Mal nach 2007 und 2010 der Umfang des freiwilligen Engagements, die Merkmale, die Beweggründe und die prinzipielle Mobilisierbarkeit von freiwillig Tätigen in der Schweiz erfasst. Durchgeführt wurde die Erhebung vom Umfrageinstitut Demoscope.

Zur Person

Markus Freitag, geboren 1968, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Germanistik. Nach Aufenthalten an der ETH Zürich und den Universitäten Bern, Basel, Berlin und Konstanz ist er seit 2011 ordentlicher Professor und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Er ist Verfasser zahlreicher Beiträge zur Zivilgesellschaft in der Schweiz («Das soziale Kapital der Schweiz», Zürich: NZZ-libro) und leitet die wissenschaftliche Durchführung des Freiwilligen-Monitors Schweiz (Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016, Zürich: Seismo). 

 

Kontakt:

Prof. Dr. Markus Freitag
Institut für Politikwissenschaft (IPW)
Fabrikstrasse 8
3012 Bern
Büro: A152 (1.OG)
Telefon direkt: +41 31 631 46 85
Telefon Institution: +41 31 631 83 31
Email: markus.freitag@ipw.unibe.ch

Institut für Politikwissenschaft

Das Institut ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz. Es beheimatet Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Es werden die Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik» angeboten. Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, Europa- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem werden zahlreiche Dienstleistungen für die Öffentlichkeit erbracht und die Dauerbeobachtung des freiwilligen Engagements (Freiwilligen-Monitor Schweiz) betrieben.

Zur Autorin

Brigit Bucher arbeitet als Stv. Leiterin Corporate Communication an der Universität Bern und ist Redaktorin bei «uniaktuell».

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