Grenzüberschreitend denken und forschen

Das Walter Benjamin Kolleg bündelt interdisziplinäre Forschungsaktivitäten der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. Derzeit arbeiten rund 100 Doktorierende, Postdocs und andere Forschende am Kolleg. Am 26. April wurde seine Eröffnung gefeiert.

28. April 2016

Ariane Lorke, Michael Toggweiler

Im Walter Benjamin Kolleg kommen Forschende verschiedener Generationen aus den unterschiedlichsten Fächern miteinander ins Gespräch, lernen voneinander – die Älteren von den Jüngeren genauso wie umgekehrt – und schulen sich dadurch in der Fähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit.

Benannt ist das Kolleg nach dem Philosophen, Kulturwissenschaftler, Übersetzer und Autor Walter Benjamin, der vor bald 100 Jahren an der Universität Bern seine Dissertation über den «Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik» mit Bestnote abgeschlossen hat. Zu den zahlreichen Berner Schriften Benjamins gehört auch das (gemeinsam mit dem Freund Gershom Scholem verfasste) satirische «Vorlesungsverzeichnis der Universität Muri»: als Veranstaltung bei den Theologen fungierte «Das Osterei. Seine Vorzüge und Gefahren», für die Philosophie war eine «Theorie des freien Falls mit Übungen im Anschluss» vorgesehen.

Portrait des Wissenschaftlers Walter Benjamin als junger Mann. © age fotostock / Alamy Stock Photo © age fotostock / Alamy Stock Photo

Nicht nur wegen des biografischen Bezugs, sondern vor allem aufgrund der Vielfalt von Benjamins Werk, das sich in keine Schublade stecken lasse, sei Walter Benjamin der ideale Namensgeber für ein Kolleg, das der interdisziplinären Forschung, dem grenzüberschreitenden Denken und der Förderung junger Forschender gewidmet sei, ist sich die Dekanin der Philosophisch-historischen Fakultät, Prof. Dr. Virginia Richter, anlässlich der Eröffnung des Kollegs am vergangenen Dienstag sicher. Und Prof. Dr. Anselm Gerhard, Präsident des WBKollegs, ergänzt: «Die Berner Institution will Raum geben für Forschungsaktivitäten jenseits disziplinärer Grenzen, jenseits ausgetretener Pfade, vom Werk Benjamins inspiriert und ihrem großen Vorbild verpflichtet.» Genau deshalb fasse die Einrichtung so unterschiedliche Teile zusammen wie das Center for Global Studies und das Center for the Study of Language and Society, die Digital Humanities, die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor, die Distinguished Lectures Series, und mit der Graduate School of the Humanities eine florierende Doktorandenschule.

Tag der offenen Tür

Beim Forum der Graduate School of the Humanities diskutieren Nachwuchsforscher mit den Gästen des Tags der offenen Tür. Foto: Ramon Lehmann
Beim Forum der Graduate School of the Humanities diskutieren Nachwuchsforscher mit den Gästen des Tags der offenen Tür. Foto: Ramon Lehmann

Der feierlichen Eröffnung am Abend ging ein Tag der offenen Tür voraus. Parallel zur Präsentation von Forschungsprojekten des Kollegs traten Doktorierende und Postdocs aus Musikwissenschaft und Geschichte, Kunstgeschichte und Linguistik, Anglistik und Philosophie im Rahmen einer Poster-Vernissage und eines interaktiven «World Cafés» miteinander über fachliche und sprachliche Grenzen hinweg in einen Dialog. Durch geteilte Konzepte und Knacknüsse entstanden so spontane Kontaktzonen, in denen Theorien und Praktiken verschiedener disziplinärer Richtungen aufeinandertrafen und in einen produktiven Dialog traten. Dabei zeigten sich nicht nur die Vielfalt der Themen und Methoden an der Phil.-hist. Fakultät, sondern auch die Chancen und Risiken disziplinübergreifender Zusammenarbeit. Im Kleinen spiegelte das Forum der Doktorierenden die Ausrichtung des Kollegs: Da sich die Probleme dieser Welt nicht an Grenzen von Forschungsinstitutionen und –traditionen halten, bietet das Kolleg Plattformen für einen fruchtbaren interdisziplinären Austausch. 

Drei Enkelinnen von Walter Benjamin freuen sich über die Eröffnung des Walter Benjamin Kollegs. Foto: Ramon Lehmann

Wer und was braucht interdisziplinäres Denken?

Interdisziplinarität, wie sie am Kolleg verstanden wird, verlangt ein dialogisches Übersetzen von wissenschaftlichen Begriffen, Methoden und Modellen, um «Grenzen zugunsten einer Erweiterung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Problemlösungskompetenzen» (Jürgen Mittelstraß) zu überschreiten. Die Voraussetzung dafür erläuterte Ulrike Landfester von der Universität St. Gallen am Abend in ihrem Festvortrag: Gefordert sei zuerst ein starkes disziplinäres Selbstverständnis: «jeder einzelne, [muss| über ein disziplinäres Markennarrativ über unsere Herkunftsdisziplin verfügen, ein Dreisatznarrativ, in dem wir jedem beliebigen Gegenüber möglichst knapp, klar und deutlich erklären können, was wir eigentlich genau machen.» Alleine eine solche Selbstvergewisserung über ein mögliches Profil der eigenen Disziplin werde mitunter ängstlich vermieden, vielleicht auch, weil dabei stets ein dialogisches Aussen mitgedacht oder miteinbezogen werden müsse. Für die eigene klare Positionierung in der akademischen Landschaft sei der Austausch mit anderen Disziplinen und Wissenskulturen nämlich Voraussetzung. So verstanden sei Disziplinarität stets auch Interdisziplinarität, unser Selbstverständnis stets ein relationales Selbstverständnis. 

Festvortrag «Passagen-Werke: Herausforderungen interdisziplinärer Forschung» von Prof. Dr. Ulrike Landfester, Universität St. Gallen. Foto: Ramon Lehmann
Festvortrag «Passagen-Werke: Herausforderungen interdisziplinärer Forschung» von Prof. Dr. Ulrike Landfester, Universität St. Gallen. Foto: Ramon Lehmann

Natürlich, so Landfester, erfordere interdisziplinäre Arbeit enorm viel Kulturtransferarbeit und sei grundsätzlich explorativ angelegt – eine Arbeit, die von Gefühlen der Befremdung begleitet werde und auch scheitern könne. Hier sei aber Risikobereitschaft gefordert. Im besten Fall stünden wir vor bisher ungeahnten Möglichkeiten. Im schlechtesten Fall können wir uns immerhin fragen, warum wir uns nicht verstehen. Innovation ist schliesslich nur in solchen Schnittstellen möglich, oder, wie Walter Benjamin es ausdrückte: «Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.»

Das Walter Benjamin Kolleg

  • wurde im Mai 2015 gegründet und bündelt inter- und transdisziplinäre Forschungsaktivitäten der Philosophisch-historischen Fakultät
  • dient der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
  • umfasst zwei Forschungszentren, ein Forschungs- und Nachwuchsnetzwerk mit einer Graduiertenschule, ein Forschungsforum, die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur sowie die Projekte Distinguished Lectures Series und Digital Humanities
  • ist eine der ersten Einrichtungen zur inter- und transdisziplinären Nachwuchsförderung im Bereich Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in der Schweiz

Zu den Autoren

Dr. des. Michael Toggweiler ist Koordinator des Interdisziplinären Forschungs- und Nachwuchsnetzwerks sowie der Graduate School of the Humanities am Walter Benjamin Kolleg.

Dr. des. Ariane Lorke leitet seit 2015 die Geschäftsstelle des Walter Benjamin Kollegs.

28.04.2016

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