Den Islam integrieren: ein langer Prozess
Braucht es eine angepasste und nachhaltige Steuerung der Integration der islamischen Religionsgemeinschaften in die schweizerische Öffentlichkeit? Diese Frage stand im Zentrum einer ganztägigen Podiumsveranstaltung an der Universität Bern. 25 Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Religionsgemeinschaften diskutierten die rechtliche Stellung muslimischer Religionsgemeinschaften in den Kantonen.
Die Integration der islamischen Religionsgemeinschaften in die schweizerische Öffentlichkeit wird gerade jetzt sehr kontrovers behandelt. Im Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Staat die Friedensordnung zwischen Religion und Gesellschaft weiterhin sicherstellen kann und wie es ihm gelingt, die islamischen Gemeinschaften möglichst erfolgreich in diese Ordnung einzugliedern. An der Podiumsveranstaltung, die am 20. Oktober in der UniS stattfand, wurden diese Themen auf verschiedenen Podien diskutiert. Die Veranstaltung wurde vom Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie organisiert und fand im Rahmen des von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW als Teil der Reihe «La Suisse existe - La Suisse n'existe pas» ausgerichteten Schwerpunktthemas «Der Islam in der Schweiz» statt.
Eine breite Debatte
In seiner Eröffnungsansprache mahnte Stefan Rebenich, Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät, einen konstruktiven Ansatz in dieser Debatte an. Er wies auch darauf hin, dass solche Anerkennungsprozesse immer auch eine Standardisierung von Religionsgemeinschaften zur Folge haben, da die rechtlichen Rahmenbedingungen für alle Religionsgemeinschaft gemäss Verfassung die gleichen seien müssen. Der Luzerner Religionswissenschaftler Martin Baumann bot den Debattenteilnehmern durch sein Einführungsreferat reichlich Diskussionsstoff an.
Die Debatten auf den vier Podien verliefen auf hohem Niveau und machten deutlich, dass Wissenschaft wie Politik und Interessensverbände den bestehenden staats- und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf anerkennen. Dieser Konsens prägte die Debatten auf den Podien. Sie sollten helfen, die Leitfragen der Debatte zu strukturieren: so befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst mit dem Islam als öffentliche Religion in der Schweiz, dann mit den rechtlichen Voraussetzungen einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung, weiter mit der Frage der Repräsentation der innerislamischen Vielfalt und schliesslich mit dem Problem, wie mit extremistischen, ultrareligiösen islamischen Gemeinden zu verfahren ist.
Brückenbauer
Es gelang den Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesen Podien eine Brücke zwischen Wissenschaft, Politik und Interessensgemeinschaften zu bauen und sachlich, konstruktiv, aber durchaus auch kontrovers die Spielräume eines solchen Anerkennungsprozesses auszuloten. Dies gelang dank der kenntnisreichen Gesprächsführung durch die Moderatorin Antonia Moser, SRF, und Markus Huppenbauer, Universität Zürich. Jedes Podium wurde begleitet von einer Berichterstatterin beziehungsweise einem Berichterstatter. In einem abschliessenden Podium kamen sie nochmals zu einer Debatte zusammen. Sie hatten eine doppelte Aufgabe: Neben einer kritischen Würdigung der Diskussionen ihrer Podien sollten sie Schlussfolgerungen für mögliche Empfehlungen hinsichtlich einer möglichen öffentlich-rechtlichen Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften ziehen, die dann zuhanden der Kantone, aber auch des Bundes ausgearbeitet werden sollten.
Die Anerkennung als dynamischer Prozess
Mit grossem Interesse verfolgten etwa 130 Gäste die Debatten, die deutlich machten, dass eine öffentlich-rechtliche Anerkennung als Ergebnis eines längeren gesellschaftspolitischen Prozesses zu verstehen ist. Beginnen könnte er mit Formen einer vertraglich geregelten «kleinen Anerkennung» von bestimmten, gesellschaftlich relevanten Mitwirkungsfeldern wie etwa im Bereich der Seelsorge. Die eigentliche «grosse Anerkennung» islamischer Religionsgemeinschaften als öffentliche Körperschaften sollte dann als Endpunkt des dynamischen Prozesses verstanden werden. Auch müssten die islamischen Religionsgemeinschaften entscheiden, welche institutionelle Form der Repräsentation sie für sich wählen wollten und ob diese Repräsentation nur organisatorischer Natur sein oder sie auch eine islamisch-theologische Komponente aufweisen sollte.
Es bestand ein Konsens darüber, dass eine kleinteilige Form der Anerkennung von einzelnen ethnischen oder konfessionellen islamischen Religionsgemeinschaften dem gesellschaftspolitischenAnliegen widerspricht. Ein Ausschluss einzelner islamischer Religionsgemeinschaften aus einem Anerkennungsprozess würde das Gemeinwohl in der Schweiz empfindlich stören. Hingegen wurde immer wieder betont, dass die Anerkennung des Islam als Ganzes als öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft ein unmittelbares Anliegen der Zivilgesellschaft ist.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig, dass die Tagung ihr Ziel, einen ersten Katalog von möglichen religionspolitischen Empfehlungen auszuarbeiten, erreicht hat. Diese sollen wie die Debatten selbst in einem Protokoll zusammengeführt und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
DER ISLAM ALS ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RELIGIONSGEMEINSCHAFT IN DER SCHWEIZ?
Die Veranstaltung «Der Islam als öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft in der Schweiz?» wurde vom Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie organisiert und durch die SAGW, die Schweizerische Asiengesellschaft und die Philosophisch-historische Fakultät der Universität Bern unterstützt.
Die aktive Teilnahme der Politik, so durch den Berner Regierungsrat Christoph Neuhaus, durch die Nationalrätinnen Irène Kälin (AG), Rosmarie Quadranti (ZH) und Sibel Arslan (BS) sowie den Nationalrat Cédric Wermuth (AG), stellte eine grosse Bereicherung der Debatte dar. Besonders ergiebig war auch das Gespräch zwischen den Vertreterinnen und Vertretern anerkannter Religionsgemeinschaften (Dr. Herbert Winter, Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Esther Gaillard, Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Dr. Erwin Tanner, Generalsekretär der Schweiz. Bischofskonferenz und Bischof Harald Rein, Christkatholische Kirche der Schweiz, Bern) mit den islamischen Gemeinschaften und Verbänden, hier vertreten such Frau Dr. Rifa'at Lenzin, Zürich, Selim Karatekin, Basel, Dr. Mahmoud El Guindi, Zürich und Montassar BenMrad, Genf). Die wissenschaftlichen Kontexte bearbeiteten Vertreter aus der Religionswissenschaft (Prof. Dr. Jens Schlieter, Bern), aus der Jurisprudenz (Prof. Dr. Adrian Loretan, Luzern), der katholischen Theologie (Prof. Dr. Hansjörg Schmid, Fribourg) und der islamischen Theologie (Prof. Dr. Amir Dziri, Fribourg). Die für das Thema wichtige juristische Perspektive wurde zudem noch von Dr. Andreas Müller, Direktion der Justiz und des Innern, Zürich, Prof. Dr. Martin Wyss und Dr. Marc Schinzel, beide vom Bundesamt für Justiz herausgearbeitet.
INSTITUT FÜR ISLAMWISSENSCHAFT UND NEUERE ORIENTALISCHE PHILOLOGIE
Das Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, die bis in das Jahr 1857 zurückreicht, als der österreichische Orientalist Aloys Sprenger als erster Professor der orientalischen Sprachen an die Universität Bern berufen wurde. Heute betreuen drei Professuren und mehrere wissenschaftliche MitarbeiterInnen knapp 200 Studierende. Die intensive Beratung und Betreuung der Studierenden auf allen Studienstufen und die kontinuierliche, auf Lehre und Forschung bezogene Qualitätsüberprüfung bilden einen wichtigen Eckpfeiler im Selbstverständnis des Instituts.
ZUM AUTOR
Prof. Reinhard Schulze (geb. 1953) ist seit 1995 Professor für Islamwissenschaft und Neure Orientalische Philologie an der Universität Bern sowie Direktor des Instituts. Er habilitierte 1987 in Bonn und forscht u.a. im Bereich islamische Kultur- und Religionsgeschichte. Schwerpunkt seiner aktuelleren Forschung sind die zeitgenössischen islamisch-politischen Kulturen.