Gender Studies von Gewicht

Das Verhältnis der Geschlechter ist derzeit ein heiss diskutiertes Thema. Von Hollywood bis zum klassischen Musikbetrieb erreichen uns täglich Mitteilungen über sexuelle Belästigungen und Nötigungen. Der #metoo-Sturm ist ein Beleg dafür, wie wichtig es ist, ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen zu erforschen. Worin die Leistungen des Fachs Gender Studies in dieser Hinsicht bestehen, schreibt die ehemalige Dekanin Virginia Richter anlässlich des «Wissenschaftstags Geschlechterforschung».

Von Virginia Richter 18. Dezember 2017

Die Erforschung ungleicher Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen ist eine von vielen Fragen, mit denen sich die Gender Studies systematisch beschäftigen. Daneben widmen sie sich anderen hochrelevanten Problemen; an der Universität Bern gehören beispielsweise «Armut und Prekarität», «Menschenrechte und Diskriminierung» oder «Care» zu den Forschungsschwerpunkten des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung IZFG. Trotz der grossen Aktualität solcher Themen fällt jedoch auf, dass die Gender Studies oft eine schlechte Presse haben. Dabei wird wenig auf die grosse Breite der Forschung eingegangen; vielmehr wandern die immer gleichen Vorwürfe durch die Medien. Um besser über die Vielfalt und Relevanz der Gender Studies zu informieren, haben sich in diesem Bereich tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entschlossen, am 18. Dezember einen «Wissenschaftstag Geschlechterforschung» durchzuführen.

Virginia Richter
Virginia Richter, Bild: zvg

Interdisziplinärer Blick 

Eine häufig geäusserte Kritik lautet, die Gender Studies seien unwissenschaftlich, weil sie die «soziale Konstruktion» der Geschlechtsidentität überbewerten und naturwissenschaftliche Erkenntnisse vernachlässigen würden. Tatsächlich umfassen sie aber eine Vielzahl von Disziplinen auch ausserhalb der Geisteswissenschaften, etwa die Medizin, die Biologie oder die Neurowissenschaften. Eben weil die Gender Studies kein einheitliches Fach sind, sind sie von Anfang an interdisziplinär angelegt. Ein vertiefter Austausch zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen, den Naturwissenschaften auf der anderen Seite wäre aber zweifellos wünschenswert – in beide Richtungen.

Making Sex

Die Geschlechterforschung hat sich von Anfang an für das Verhältnis von «sex» und «gender» interessiert, also für das Zusammenspiel zwischen dem biologischen und dem sozio-kulturellen Geschlecht. Es war eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse, dass menschliches Verhalten nicht durch einen biologischen Bauplan festgelegt ist, sondern in verschiedenen Epochen und Kulturen – und von Individuum zu Individuum – variiert. Selbst was wir unter einem solchen Bauplan verstehen, unterliegt einem grossen historischen Wandel, wie der Historiker Thomas Laqueur in seinem Buch Making Sex gezeigt hat. In der Renaissance-Medizin herrschte die Vorstellung vor, es gäbe nur ein Geschlecht: Die weiblichen Reproduktionsorgane sind quasi die weniger vollkommenen, nach innen geklappten Organe des Mannes. Das kommt uns heute reichlich bizarr vor, zeigt aber, wie unterschiedlich auch das scheinbar Natürliche wahrgenommen werden kann.

So lässt sich der Begriff der sozialen Konstruktion verstehen: Wir nehmen die Welt durch kognitive Deutungsrahmen war. Das heisst nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse subjektiv und willkürlich sind. Es bedeutet aber, dass die Reflexion über den eigenen Standpunkt ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Tätigkeit ist. Zu einer solchen methodischen und zielgerichteten Selbstreflexion in den Wissenschaften haben die Gender Studies Grundlegendes beigetragen, wegweisend etwa Donna Haraway mit ihrem Konzept des «situierten Wissens».

Wert schafft Wissen

Sind die Gender Studies normativ, wie ein weiterer Vorwurf lautet? Gemäss einer Leitlinie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) basiert gute wissenschaftliche Praxis auf «Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen»; diese sei die grundlegende «ethische Norm […] wissenschaftlicher Professionalität». Eine Wissenschaft ohne ethische Normen ist also keine gute Wissenschaft. Aus der bemerkenswerten Formulierung «Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen» lässt sich die Verpflichtung ableiten, die Werte und Normen offenzulegen, welche die eigene Forschung und Lehre anleiten. Damit meine ich explizit nicht die Festlegung eines Vorschriftenkanons, sondern die Entwicklung einer klaren Haltung. 

Wir sind nicht nur Forscherinnen und Forscher, wir haben auch eine Bildungsaufgabe, die nicht wertneutral sein kann – auch wenn, und gerade weil, nicht jeder die gleichen Werte hat. Die Frage «wie hältst du es mit der Chancengleichheit von Männern und Frauen, den Rechten von Menschen, die nicht ins übliche Mann-Frau-Schema passen, der Anerkennung von Erfahrungen, die nicht dem bürgerlichen Bildungsweg entsprechen» ist für die Hochschule als der wichtigsten Einrichtung der höheren Bildung von zentraler Bedeutung. Wenn wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln wollen, in der #metoo nicht mehr alltäglich ist, dann muss diese Diskussion geführt werden – mit gegenseitigem Respekt.

Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung IZFG

Das IZFG bündelt als disziplinenübergreifendes Netzwerk die Gender-Kompetenzen der Universität Bern und arbeitet als Kompetenzzentrum für inter- und transdisziplinäre Geschlechterforschung an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Professorinnen und Professoren aus unterschiedlichen Fächern und Fakultäten engagieren sich für das Zentrum und Studierende mit verschiedenen disziplinären Hintergründen absolvieren hier ihr Studium in Geschlechterforschung.

Das IZFG thematisiert aus einer Geschlechterperspektive gesellschaftspolitisch relevante Fragen schwerpunktmässig in den fünf Bereichen «Gender & Development», «Menschenrechte & Diskriminierung», «Gleichstellungspolitik & Gender Mainstreaming», «Armut & Prekarität» sowie «Care».

Mehr Informationen zum IZFG

Wissenschaftstag Geschlechterforschung: #4genderstudies

Am 18.12.17 findet der «Wissenschaftstag Geschlechterforschung» statt, dessen Ziel es ist, proaktiv über soziale Medien in die derzeit öffentlich bzw. medial geführte Debatte um die Gender Studies einzugreifen. 

Zur Autorin

Virginia Richter ist seit 2007 Ordentliche Professorin für Modern English Literature an der Universität Bern. Sie promovierte im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs «Literatur und Geschlechterdifferenz» an der LMU München und hat seitdem wiederholt zu Themen in den Gender Studies publiziert.

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