«Ich schreibe nicht, um zu urteilen. Ich schreibe, um zu verstehen»
Juan Gabriel Vásquez ist der siebte Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor an der Universität Bern. Zum Auftakt seines Gastsemesters las der kolumbianische Autor am 28. Februar in der Burgerbibliothek Bern aus «Das Geräusch der Dinge beim Fallen» und «Die Reputation» vor. Im anschliessenden Gespräch mit dem Komparatisten Prof. Oliver Lubrich gewährte er Einblicke in die Arbeit an seinem neuesten Werk.
«Mit Juan Gabriel Vásquez haben wir einen mehrfach ausgezeichneten Autor zu Gast, der als eine der wichtigsten lateinamerikanischen Stimmen seiner Generation gilt» beginnt Oliver Lubrich, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Bern. Diese lateinamerikansiche Stimme füllt den Hallersaal der Burgerbibliothek Bern in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist jeder einzelne Platz besetzt, zum anderen lauscht das Publikum interessiert den Episoden, welche Juan Gabriel Vásquez aus seinen Werken vorliest.
Zu Beginn des Gesprächs mit Lubrich zitiert Juan Gabriel Vásquez mit «Lo que pasó, pasó» (dt. Geschehen ist geschehen) eine der wohl bekanntesten Songzeilen Lateinamerikas – und relativiert sogleich: «Die Vergangenheit besteht nicht nur aus Tatsachen und Fakten, sondern auch aus dem, was uns verborgen geblieben ist oder wir noch immer ignorieren».
Ein anschauliches Beispiel dafür sei das sogenannte Bananen-Massaker, das sich 1928 an der Karibikküste Kolumbiens ereignete. Die Rede ist von der Ermordung einer bis heute ungeklärten Zahl streikender Bananenarbeitern, die von der Regierung angeordnet und dann verschwiegen wurde. Bis heute werde in den Schulen gelehrt, dass es damals keine oder nur wenige Toten gegeben hätte, während Historiker von 500 bis 3’000 Opfer ausgehen. Aufgabe der Literatur sei es, sich solchen Rätseln anzunehmen: «Geschichte und Journalismus lehren uns, was geschehen ist», erklärt Vásquez. «Ein Roman sollte nicht dasselbe tun – denn dann wäre er überflüsslig. Ein Roman soll uns dazu bringen, darüber nachzudenken, was geschehen sein könnte». Dies hätte der Literatur-Nobelpreisträger Gabriel García Márquez, Kolumbianer wie Juan Gabriel Vásquez, mit seinem bekanntesten Werk «Hundert Jahre Einsamkeit» erreicht, in dem er das Bananen-Massaker neu interpretierte. Durch dieses Über- und Umdenken gelinge es einem Autor, Geschehenes in ein neues Licht zu rücken und die Vergangenheit vielleicht sogar ein kleines bisschen zu verändern. Die Fähigkeit, eben dies zu tun, so Vásquez, mache den Roman zu einem einzigartigen Genre, welches unser Verständnis der Gesellschaft, Moral und Politik formt.
Die DNA des Romans
Während seines Aufenthalts in Bern verfolgt Juan Gabriel Vásquez das – wie er selbst sagt – durchaus gewagte Ziel, die DNA des Romans zu entschlüsseln. Ausgehend von Miguel de Cervantes’ «Don Quijote» präsentiert er seine These, der Roman habe vier Mütter und Väter, respektive vier Gene: das komödiantische, das tragische, das essayistische und das pikareske (schelmenhafte). In jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung machten diese Erbinformationen den heutigen Roman aus. Seine Überlegungen schreibt Vásquez in einem Buch über «Die Kunst des Romans» nieder, das zur Zeit am Entstehen ist und von einem gleichnamigen Seminar an der Universität Bern begleitet wird. Dabei kommen seine Studierenden Woche für Woche in den Genuss, ein neues Kapitel kennenzulernen und diskutieren zu können. Begleitet wird dieser Unterricht von der Lektüre ausgewählter Meisterwerke von Fjodor Dostojewski über Marcel Proust bis zu Virginia Woolf. In Vásquez’ Seminar ist – ebenso wie bei seiner Lesung in der Burgerbibliothek Bern – jeder einzelne Platz belegt. Der Kolumbianer versteht es, seine Ideen auf unterhaltsame und gleichermassen poetische Weise vorzutragen.
Macht und Gewalt
In seinen Romanen erzählt Vásquez die Geschichte eines Landes, in dem der längste Bürgerkrieg Lateinamerikas tobte und Drogenkartelle Terror verbreiteten. So führen in «Das Geräusch der Dinge beim Fallen» Nachforschungen zum Tod eines Drogenkuriers in die Ära des Medellín-Kartells und des legendären Massenmörders Pablo Escobar. Gemeinsam mit seinem Protagonisten begibt sich Juan Gabriel Vásquez auf eine abenteuerliche Wahrheitssuche. Er taucht ein in eine Zeit, die ihn und seine Generation stark prägte: Obwohl er in seinem Leben kein einziges Gramm Kokain zu sehen bekommen habe, bestimmten die damit verbundenen Machtkämpfe, Entführungen und Attentate das alltägliche Leben. «Wir hatten Angst und diese Angst bestimmte unser Verhalten», so Vásquez. Kaum ein Tag verging, an dem in den Medien nicht über den Drogenkrieg berichtet wurde.
Von der Macht der Medien und insbesondere der Kunst der Karikatur, welche in Kolumbien einen hohen Stellenwert einnimmt, erzählt Vásquez in «Die Reputation». Er stellt seinem Publikum den berühmten und zugleich gefürchteten Karikaturisten Javier Mallarino vor, der sich mit seinen satirischen Zeichnungen über Jahrzehnte hinweg Ansehen und Glaubwürdigkeit erarbeitete – bis er schliesslich zu weit ging: Seine Kunst vernichtet einen Menschen, der, von der Öffentlichkeit gehetzt, Selbstmord begeht.
Auch in seinem neusten Werk hinterfragt und überdenkt Vásquez Phänomene unserer Gesellschaft und wird somit seinen Anforderungen an einen Roman, Geschehenes nicht einfach als geschehen hinzunehmen, gerecht. Ein Urteil zu fällen, liege ihm jedoch fern: «Ich schreibe, um zu verstehen».
Zur Person
Juan Gabriel Vásquez wurde 1973 in Bogotá in Kolumbien geboren und studierte lateinamerikanische Literatur an der Sorbonne in Paris. Bevor er als Romancier internationale Bekanntheit erlangte, hatte er sich bereits als Übersetzer von Victor Hugo, John Dos Passos und E. M. Forster sowie als Essayist und Kolumnist einen Namen gemacht. Seine Werke sind vielfach ausgezeichnet und erscheinen in 16 Sprachen. Vásquez gilt als eine der wichtigsten lateinamerikanischen Stimmen seiner Generation. In seinen Romanen erzählt Vásquez die Geschichte Kolumbiens als eine Geschichte der Gewalt, der Bürger- und Drogenkriege, die seine Figuren verstört und verfolgt. Der Roman Die Informanten (2004) handelt von deutschen Einwanderern während der Nazi-Zeit, Die geheime Geschichte Costaguanas (2007) von der Sezession Panamas, Die Reputation (2013) von der Macht eines Karikaturisten, Die Form der Ruinen (2015) von politischen Attentaten. In Das Geräusch der Dinge beim Fallen (2010) führen Nachforschungen zum Tod eines Drogenkuriers in die Ära des Medellín-Kartells und des legendären Massenmörders Pablo Escobar. Aus 600 Manuskripten ausgewählt, wurde der bis dahin unveröffentlichte Roman von der Jury in Madrid mit dem Premio Alfaguara ausgezeichnet, einem der wichtigsten Literaturpreise der spanischsprachigen Welt.
© Bild: Hermance Triay.
Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur
Der Name Friedrich Dürrenmatt steht für eine vielseitige Weltliteratur in Bern: Der aus dem Kanton stammende Schriftsteller, der an der Universität Bern studierte, verfasste Prosatexte und Essays sowie Arbeiten für Theater und Radio, die in zahlreichen Zusammenhängen und Sprachen wahrgenommen wurden. Im Herbst 2013 wurde an der Universität Bern die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur eingerichtet. Sie dient der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Literatur, Theorie und Praxis, Universität und Öffentlichkeit. Seit dem Frühjahr 2014 unterrichtet in jedem Semester eine internationale Autorin oder ein internationaler Autor als Gast des Walter Benjamin Kolleg an der Universität Bern. Sie oder er gibt eine Lehrveranstaltung, die sich an alle Studierenden der Philosophisch-historischen Fakultät richtet. Zusätzlich zu den Seminaren oder Vorlesungen der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessoren werden universitäre und öffentliche Veranstaltungen in Bern sowie an anderen Orten in der Schweiz angeboten. Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur wird verwirklicht mit Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz. Sie wird gefördert durch die Burgergemeinde Bern.
Der kolumbianische Autor Juan Gabriel Vásquez ist der siebte Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor. Seine Vorgänger waren im Frühjahr 2014 David Wagner (Berlin), im Herbst 2014 Joanna Bator (Warschau), im Frühjahr 2015 Louis-Philippe Dalembert (Haiti), im Herbst 2015 Wendy Law-Yone (Burma), im Frühjahr 2016 Fernando Pérez (Kuba) und im Herbst 2016 Wilfried N’Sondé (Kongo).
Kontakt:
Prof. Dr. Oliver Lubrich
Institut für Germanistik
Länggassstrasse 49
3012 Bern
Tel.: +41 31 631 83 11
oliver.lubrich@germ.unibe.ch
Zur Autorin
Vera Jordi ist Hilfsassistentin von Prof. Oliver Lubrich am Institut für Germanistik.