Mehr Europa wagen – «jetzt erst recht!»

Trump, Brexit, Le Pen, Putin oder Erdogan. Es mangelt derzeit nicht an Gründen, die in Europa lebende Menschen verunsichern können. Daniel Cohn-Bendit, Legende der studentischen Revolte, französisch-deutscher Doppelbürger und politisches Urgestein der Grünen in Europa, hielt im Rahmen der Ringvorlesung «Visionen» des Collegium generale dagegen.

Von Marcus Moser 30. März 2017

Daniel Cohn-Bendit ist bekannt. Darauf lässt der Aufmarsch schliessen. Das Auditorium Maximum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Insbesondere politisch affine ältere Menschen haben von «Dany Le Rouge»  in den letzten mehr als 50 Jahren immer wieder gehört. Zwei Stimmen am Rande der Veranstaltung des Collegium Generale mögen dies verdeutlichen: «Irgendwie ist er immer noch der Gleiche, energisch in der Aussage, mitreissend in der Darbietung.» «Jetzt stimme ich mit ihm sehr überein, das war in Frankfurt 1968 aber ganz anders.» Cohn-Bendit weiss sein Publikum einzunehmen. Nonchalant setzt er sich auf einen Tisch und beginnt zu sprechen. Reden ist sein Métier. Damit hat er in seinem Leben Millionen von Leuten aufgewühlt und provoziert, abgestossen und überzeugt.

Ein Kämpfer für Europa: Daniel Cohn-Bendit. Alle Bilder © Universität Bern
Ein Kämpfer für Europa: Daniel Cohn-Bendit. Alle Bilder © Universität Bern

Und reden wird er auch an diesem Abend an der Universität Bern, über eine Stunde lang. Frei. Und zunächst von sich. Der 71-jährige beginnt mit seiner Zeugung – um nach einer Stunde bei der Zeugung vieler neuer Europäerinnen und Europäer zu enden: Auch dank einer Initiative, die er mit dem verstorbenen Soziologen Ulrich Beck  2012 ins Leben gerufen hat. Einem freiwilligen Europäischen Jahr für alle, «für Taxifahrer, für Krankenschwestern, Facharbeiter, Zahnärzte, Lehrer, Journalisten, Studentinnen und Rentner». Die nationalen Demokratien sollen europäisch demokratisiert und Europa neu begründet werden. Erasmus Plus! Europa Plus!

Braucht es Europa?

«Ich rede hier nicht als Theologe – auch wenn einige sagen, ich sei ein gläubiger Europäer.» Cohn-Bendit nimmt Fahrt auf. «Dank Europa ist hier kein Krieg mehr möglich», ein Kernsatz, auf den er alle möglichen Einwände schon gehört habe. Zum Beispiel wieso die Europäische Union erst nach dem 2. Weltkrieg gegründet worden sei. Warum nicht früher? Es folgt ein Tour-d’Horizon durch die Geschichte Europas. Fazit: «Der Zusammenbruch der hegemonialen Mächte – von Napoleon bis Hitler – war nötig. Nur so konnte der europäische Gedanke in den 1950er Jahren überhaupt gedacht werden.» «Ich kann das mit dem Frieden nicht mehr hören», nimmt Cohn-Bendit längst formulierten Überdruss vorweg. Und antwortet rhetorisch: «Europa als Friedensgemeinschaft ist immer noch gültig. Aber genügt das heute? Die Antwort ist klar: Nein!»

«Europa als Friedensgemeinschaft ist immer noch gültig. Genügt das heute? Die Antwort ist klar: Nein!»
«Europa als Friedensgemeinschaft ist immer noch gültig. Genügt das heute? Die Antwort ist klar: Nein!»

Just an dem Tag, als Cohn-Bendit an der Universität Bern auftritt, reicht die Britische Regierung ihren Brexit-Antrag an die Europäische Union EU ein. «Dover and out», titelt die britische «The Sun». Cohn-Bendit hält dagegen: «Sie können nicht vom Omelett zurück zu den Eiern kommen. Mit diesem Schritt wird aus Grossbritannien Kleinbritannien werden». Er prophezeit, dass die Schottinnen und Schotten in der EU bleiben werden. Und er verweist auf das Irland-Problem, das durch den Brexit nach Jahren neu befeuert werden und zu einer neuen Grenze führen könnte.  

Europa entwickeln

Cohn-Bendit erwähnt zwei Herausforderungen, die die ganze Welt betreffen: Die Globalisierung und den Klimawandel. Er erinnert an den Durchbruch, der bei der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 erreicht werden konnte. «Wenn wir die erreichte Position zur Reduktion von CO2 durchsetzen wollen, dann braucht es Europa.» Daniel Cohn-Bendit erinnert an eine Aussage von Victor Hugo, um sie in die Zukunft zu projizieren: «In dreissig Jahren gibt es die Vereinigten Staaten von Europa!». Denn dies sei die Bedingung, um mit den USA oder mit Russland oder China «von Angesicht zu Angesicht und auf Augenhöhe» verhandeln zu können.

Davon seien wir aber noch ein Stück entfernt. Cohn-Bendit weist darauf hin, dass der Etat der EU lediglich ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) betrage, währen dem der föderale Haushalt der USA 27 Prozent des BIP betrage. «Wenn Europa eine eigenständige Politik machen und seine liberalen Werte verteidigen will, geht dies nur über eine europäische Souveränität. Es braucht eine europäische Regierung.» Cohn-Bendit illustriert den Gedanken am Beispiel der Sicherheitspolitik: Heute gäbe es in Europa rund 2 Millionen Soldaten und Soldatinnen in Uniform. Aber nicht unter geeintem Kommando. In der heutigen Welt mit den aktuellen Bedrohungen sei eine weitergehende, transnationale Vernetzung auch militärisch dringend geboten: «Wir brauchen eine europäische Armee, rund 300'000 Soldatinnen und Soldaten und mit moderner Ausrüstung.»

Hätte auch noch länger Zeit gehabt: Daniel Cohn-Bendit in der Diskussion mit dem Publikum
Hätte auch noch länger Zeit gehabt: Daniel Cohn-Bendit in der Diskussion mit dem Publikum

Trump sei Dank

US-Präsident Donald Trump hält den Klimawandel für eine menschliche Erfindung und will per Dekret die Kohleindustrie wieder vermehrt fördern. Ein Grund für Pessimismus? Nicht für Daniel Cohn-Bendit. Er sieht im Gegenteil bereits einen deutlichen Wechsel der politischen Stimmung, zumal in Europa. «Ja, es ist schwierig», gibt er zu, um aber fortzufahren: «Immer mehr Menschen wollen es angesichts der Situation in den USA und anderen Teilen der Welt mit diesem Europa versuchen.» Er erwähnt die wachsende Bürgerinitiative «Pulse of Europe» in Deutschland, die Demonstrationen gegen den Brexit in Grossbritannien oder den jüngsten Ausgang der Wahlen in den Niederlanden. «Wilders hat die Macht nicht übernommen. Er kam auf 13 Prozent. Rund 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in den Niederlanden sind für einen Verbleib in der EU.» Bezogen auf die Wahl in Frankreich wagt der französisch-deutsche Doppelbürger und ehemalige EU-Abgeordnete beider Länder gar eine Prognose: «Emmanuel Macron hat sich klar positioniert: Wir Franzosen brauchen Europa, sagt Macron. Wir müssen es verändern, aber wir brauchen es!» Cohn-Bendit geht von einem zweiten Wahlgang zwischen Le Pen und Macron um die französische Präsidentschaft aus. «Da wird es thematisch um Europa gehen. Macron wird mit 65 Prozent gegen Le Pen mit 35 Prozent siegen!»

Europa emotional positiv besetzen

«Mit der Landung der Alliierten in der Normandie hatten meine Eltern wieder Hoffnung. Sie zeugten mich. Das ist meine pränatale Prägung als Optimist!» Jetzt gehe es, so Cohn-Bendit, darum, den Begriff und die Tatsache Europa wieder emotional positiv zu besetzen. Anzeichen hierfür sehe er überall. «Wir brauchen Erasmus und ein freiwilliges Europäisches Jahr für alle: Erasmus plus!» ruft Cohn-Bendit zum Schluss. Was die Anwesenden mit einem spontanen Applaus plus quittieren.

Zur Person

Daniel Cohn-Bendit wurde am 4. April 1945 in Frankreich geboren. Im Mai 1968 war «Dany le Rouge» Sprecher der Pariser Studierenden. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich engagierte er sich in der Sponti-Szene in Frankfurt am Main. Ab 1978 war Cohn-Bendit Mitglied der Grünen und zählte mit Joschka Fischer zu deren Realo-Flügel. Von 1994 bis 2014 war er Europaabgeordneter, abwechselnd für die Grünen in Deutschland und Frankreich. Cohn-Bendit ist verheiratet und hat einen Sohn. Er lebt in Frankfurt am Main.

Zum Collegium generale

Das Collegium generale der Universität Bern ist die älteste eigenständige interdisziplinäre Institution der Universität. Es hat die Aufgabe, den fächerübergreifenden Dialog und die inter- und transdisziplinäre Vernetzung innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende und Studierende aller Fakultäten zu fördern. In Veröffentlichungen und allgemeinbildenden Veranstaltungen vermittelt das Collegium generale Beispiele dieser Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit.

Zum Autor

Marcus Moser arbeitet als Leiter Corporate Communications an der Universität Bern.

Oben