Revolution einfach – 100 Jahre Lenin-Zug ab Zürich
Am 9. April 1917 reiste Lenin mit rund 30 Revolutionärinnen und Revolutionären vom Hauptbahnhof Zürich nach Petrograd, um sich an die Spitze der epochalen Umwälzungen in Russland zu stellen. 100 Jahre danach organisierten die Osteuropa-Professuren der Universitäten Bern, Zürich und Basel einen aufsehenerregenden Thementag für die Öffentlichkeit.
Im Zentrum des vielfältigen Programms stand die Frage, was die Russischen Revolutionen aus heutiger Sicht bedeuten – und welche Verbindungen es zur Schweiz gab. Zum Auftakt einer kritischen, differenzierten Aufarbeitung gab es Vorträge der Mitglieder des Organisationsteams, das aus den Professorinnen Nada Boškovska (Zürich), Julia Richers (Bern) und Professor Frithjof Benjamin Schenk (Basel) bestand. So verwies etwa Julia Richers auf die Bedeutung der Zimmerwalder Konferenz von 1915 und die revolutionäre Sprengkraft des damals verabschiedeten Manifests. «In den Nachrichtenspalten der NZZ wurde das Ereignis zunächst als nicht besonders wichtig eingestuft» erläuterte Julia Richers das damalige Medienecho.
Utopien und Terror
In einer Podiumsdiskussion mit dem emeritierten Professor Karl Schlögel und dem Moskauer Historiker Alexander Vatlin, moderiert vom NZZ-Redaktor Ivo Mijnssen, wurde der Weg der Revolution nachgezeichnet. Dieser begann mit zahlreichen Utopien für ein besseres Leben und endete im Terror Stalins. Karl Schlögel plädierte dafür, sich nochmals in die damalige Zeit hineinzuversetzen und nicht alles aus der heutigen Kenntnis über den Verlauf der Ereignisse zu beurteilen, um ansatzweise zu verstehen, wie es zu dieser Revolution kam.
Mit Schule und Theater
Zusammen mit Schülerinnen und Schülern einer Zürcher Gymnasialklasse veranstaltete Florian Rohner von der Universität Zürich im Landesmuseum einen Workshop. Gleich zwei Theaterprojekte vermittelten dem Publikum die historische Zugfahrt auf ganz unterschiedliche Weise: Das Berner StudentInnen Theater (BeST) inszenierte eine Lesung von literarischen Verarbeitungen der Zugfahrt und Erinnerungstexten der damaligen Zugreisenden. In ihrer pointierten Interpretation der Texte wurden die Revolutionärinnen und Revolutionäre wieder lebendig und das Publikum erhielt einen stimmungsvollen Einblick in die Zugfahrt. Das Basler Theaterensemble Thorgevsky & Wiener hingegen entwickelte ein Stück rund um Lenin und seine Gefolgsleute, das sich kritisch mit der Revolution auseinandersetzte. Diese zweite Inszenierung fand nicht auf einer normalen Bühne statt, sondern wurde während einer ungewöhnlichen Zugfahrt aufgeführt.
Ein historischer Zug als Bühne
Für eine knappe Stunde wehte am Nachmittag des 9. April der Geist der Revolution durch den Hauptbahnhof Zürich: Nicht nur die Anzeigetafel verwies auf den Extrazug, auch per Lautsprecher-Durchsage wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Lenin-Zug ein zweites Mal zur Abfahrt bereitstand – diesmal als Inszenierung. Um 15.05 Uhr konnten die über 300 versammelten Mitreisenden sowie zahlreiche weitere Interessierte auf Perron 8 einer «Rede Lenins» beiwohnen – im Hintergrund die Dampflokomotive mit Jahrgang 1904 inklusive historischem Rollmaterial. Um 15.29 Uhr schliesslich setzte sich der Zug in Bewegung – 100 Jahre nach der Abfahrt des Zuges mit den revolutionären Reisenden an Bord. Allerdings führte die Reise des Zuges nicht bis nach Petrograd – in Etzwilen nahe Schaffhausen war Schluss. Während der Reise führte das Ensemble Thorgevsky & Wiener sein Stück auf, wobei sich die Theaterleute durch den Zug bewegten und die Passagierinnen und Passagiere von ihren Plätzen aus dem Spektakel beiwohnten.
Durchgeführt wurde der Thementag in enger Kooperation mit dem Landesmuseum Zürich, wo bis zum 25. Juni die grosse Ausstellung zur Revolution 1917 gezeigt wird. Finanziert wurde das Projekt vom Förderprogramm AGORA des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Erfolgreiches Pionierprojekt
Nicht nur der historische Zug und das Reenactment zogen viel Aufmerksamkeit auf sich. Auch die wissenschaftlichen Veranstaltungen im Landesmuseum waren mit etwa 450 Personen gut besucht, das Medienecho und die Resonanz in den sozialen Medien fielen gewaltig aus.
Der Versuch, historische Forschung aus den Universitäten heraus auch einem breiteren, interessierten Publikum zugänglich zu machen, kann somit als gelungen bezeichnet werden. Insbesondere in den zahlreichen Diskussionen, die an die Vorträge und die Podiumsdiskussionen anschlossen, kam es zu einem Dialog zwischen Forschenden und der Öffentlichkeit. Die Zugfahrt mit Theater hat ein sehr breites Publikum angesprochen, das sowohl historisch interessierte Personen als auch Zugfans und Theaterbegeisterte umfasste. Eine Kooperation zwischen den Lehrstühlen für Osteuropäische Geschichte der drei Universitäten Basel, Bern und Zürich fand in dieser Form zum ersten Mal überhaupt statt.
DIE REVOLUTION UND DIE SCHWEIZ
Der Thementag «Lenins Zug. Die Russische Revolution und die Schweiz» wurde von Prof. Dr. Nada Boškovska (Universität Zürich), Prof. Dr. Julia Richers (Universität Bern) und Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk (Universität Basel) und ihren Mitarbeitenden organisiert. Der vom SNF unterstützte Grossanlass umfasste wissenschaftliche Kurzvorträge mit Diskussionen, ein Podium, einen Workshop mit einer Schulklasse, szenischen Lesungen und eine historische Zugfahrt mit Theaterstück.
OSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE IN BERN
Das Ordinariat für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte gehört zur Abteilung für Neuste und Zeitgeschichte am Historischen Institut. Neben Schwerpunkten in der sowjetischen und ostmitteleuropäischen Geschichte forschen die Mitarbeitenden am Lehrstuhl von Prof. Dr. Julia Richers auch an der Schnittstelle von Schweizer und Osteuropäischer Geschichte. So beschäftigt sich der Lehrstuhl nicht nur mit der Geschichte der Russischen Revolution, sondern auch mit den russischen Revolutionärinnen und Revolutionären im Schweizer Exil. Ein Ergebnis davon waren jüngst Publikationen wie der viel beachtete Band Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe (2015), von Julia Richers gemeinsam mit Bernard Degen herausgegeben, oder Projekte wie die aktuelle Kooperation mit den Professuren in Zürich und Basel zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution.
ZU DEN AUTORINNEN
PD Dr. Carmen Scheide ist seit 2016 Dozentin für Geschichte Osteuropas an der Universität Bern Ayse Turcan arbeitet als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte. Beide waren Mitorganisatorinnen des Thementags