Staatsverschuldung: Probates Mittel oder potenzieller Krisenherd?

Zum Auftakt der Vorlesungsreihe «Schuld und Schulden» des Collegium generale am Mittwoch, 20. September nahm Laura Rischbieter, Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz, die moderne Staatsverschuldung aus historischer Perspektive unter die Lupe.

Von Ivo Schmucki 27. September 2017

«Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heisst der irrtümlichen Annahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen.» Mit diesem Zitat des deutschen Schriftstellers und Satirikers Kurt Tucholsky steigt Laura Rischbieter in ihr Referat ein und ist damit bereits mitten drin in einer alten Debatte. Ist Verschuldung ein probates Mittel zur Finanzierung von Staaten oder beruht sie eben doch auf einer irrtümlichen Annahme und verursacht internationale Wirtschaftskrisen? Darüber streiten sich Expertinnen und Experten seit der Frühen Neuzeit. «Welche Fragen zur Debatte über Schulden und Staatsbankrotte kann eine Historikerin beantworten?», fragt Laura Rischbieter: «Ich behaupte dreierlei.»

Frage 1: Seit wann gibt es öffentliche Schulden?

Die moderne öffentliche Staatsverschuldung existiert seit dem 18. Jahrhundert. «Seit da ist nicht mehr ein Herrscher der Schuldner, sondern der ganze Staat», erklärt Laura Rischbieter. Seither seien alle Bürgerinnen und Bürger gleichermassen verpflichtet, und es gebe zentrale Schuldenkassen, mit denen Schulden verzinst und auch getilgt werden. Um die Schuldenkassen über Steuern zu finanzieren und diesen Eingriff in die Bürgerrechte zu legitimieren, wurden Verfassungen verabschiedet. «Die Demokratien kamen nicht zuletzt dadurch in Schwung, dass die Parlamente die Möglichkeit hatten, über die Finanzen die Hoheit auszuüben», sagt Rischbieter. Der Steuerstaat und die Finanzmärkte seien von Anfang an eng miteinander verflochten: «Sie entstanden zur gleichen Zeit und in grossem gegenseitigen Interesse.» Den modernen Staaten sei es durch die Aufnahme von Schulden erst möglich geworden, grosse Investitionen zu tätigen, deren ökonomischer Wert sich erst später rechnet. 

«Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heisst der irrtümlichen Annahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen», sagte einst der deutsche Schriftsteller und Satiriker Kurt Tucholsky. Bild: Wikimedia commons
«Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heisst der irrtümlichen Annahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen», sagte einst der deutsche Schriftsteller und Satiriker Kurt Tucholsky. Bild: Wikimedia commons

Frage 2: Wie haben sich die Schulden historisch entwickelt?

Vor diesem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Staatsverschuldung vergleicht Laura Rischbieter dann verschiedene Zustände der globalen Staatsverschuldung miteinander. Dies tut sie anhand der Schuldenquote, dem relativen Verhältnis zwischen Bruttoinlandprodukt (BIP) und Schulden eines Staates. Während der Weltkriege stieg der Schuldenberg aufgrund grosser Investitionen global an, und auch die Weltwirtschaftskrise der 1920er- und 30er-Jahren führte aufgrund des tiefen BIP zu einer Zunahme der Schulden. Nach dem Weltwirtschaftswunder der 1950er und 60er steigt die globale Staatsverschuldung kontinuierlich an. Laura Rischbieter gibt aber zu bedenken: «Im Vergleich zu den staatlichen Einnahmen sind die öffentlichen Schulden momentan eher niedrig.» Das habe damit zu tun, dass der Staatsanteil am BIP gestiegen ist und vor allem die OECD-Staaten sehr solvent seien.

Frage 3: Führen Staatsverschuldungen zu Wirtschaftskrisen?

In den letzten 200 Jahren fand eine starke Integration der Finanzmärkte statt. Das spielt eine grosse Rolle für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen Finanz- und Verschuldungskrisen. Staaten, aber auch Banken und weitere Finanzakteure wurden zunehmend global tätig und daher gegenseitig abhängig. «Das führt dazu, dass lokale politische und wirtschaftliche Krisen schnell grosse Auswirkungen haben und einen Vertrauensverlust auf dem internationalen Finanzmarkt auslösen können», erläutert Laura Rischbieter. Wenn dadurch Banken in Schwierigkeiten geraten und Staaten finanziell aushelfen, können sie sich dabei laut Rischbieter selbst in eine Zahlungsunfähigkeit manövrieren: «Nicht die Verschuldung der öffentlichen Hand selbst löste in den letzten 150 Jahren mehrheitlich Krisen aus, sondern internationale politische und ökonomische Turbulenzen sowie private Verschuldung. Das scheint die Achillesferse der Staaten zu sein.» 

In der aktuellen Vorlesungsreihe des Collegium generale dreht sich alles um das Thema «Schuld und Schulden».
In der aktuellen Vorlesungsreihe des Collegium generale dreht sich alles um das Thema «Schuld und Schulden». Pixabay

Die gegenseitige Abhängigkeit und die stark integrierten Finanzmärkte führen bei einer Verschuldungskrise zudem zu einer Kaskade: «Eine Staatsverschuldung kommt selten alleine.» Daher werde bei der Verschuldung auch ein grösseres Augenmerk auf die Auslandsverschuldung gelegt. Zwischen 1800 und 2008 wurden rund 320 Staatsbankrotte ermittelt. Davon seien 250 durch Auslandsverschuldung zustande gekommen, nur 70 durch Schulden im Inland. Das sei auch in Bezug auf die Schuldenquote interessant: «Japan hat eine Quote von über 200 Prozent und lebt sehr gut damit, weil es vor allem bei seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern verschuldet ist. So kann es bei Schwierigkeiten über die Steuern zusätzliche Einnahmen generieren.»

Schulden, die niemand bemerkt

Verschuldungskrisen mit größeren sozialen und ökonomische Konsequenzen sind historisch gesehen eher selten. Zum Schluss ihres Referats kommt Laura Rischbieter aber darauf zu sprechen, was passiert, wenn ein Staat tatsächlich einmal in Zahlungsschwierigkeiten gerät. «Häufig kriegen wir davon gar nichts mit», konstatiert Rischbieter. Seit nach dem Ende des zweiten Weltkrieges verschiedene internationale Finanzinstitutionen wie der IWF oder die Weltbank gegründet wurden, koordinieren die souveränen Staaten und Zentralbanken ihre Schulden über diese Kooperation. «Es kommt selten zu Turbulenzen, weil der IWF die Schulden international koordiniert. Die Staaten können sich gegenseitig durch Umschuldung aushelfen.» Daran haben auch nicht direkt beteiligte Staaten ein Interesse, da sie im Falle einer Zahlungsunfähigkeit auch selbst betroffen wären.

Es liegt aber auf der Hand, dass dieses System nicht allen gleich zu Gute kommt. «Die Geschichte der internationalen Kooperation war nicht immer für alle Länder gleich fair. Es ist meiner Meinung nach dringend nötig, die Konzeption zur Lösung von Verschuldungskrisen zu überdenken», schliesst Laura Rischbieter. Nicht zuletzt auch, weil sich unsere Welt technisch, sozial, ökonomisch und auch politisch stark verändert habe.

Ein Staat ohne Schulden?

Im Anschluss an den Vortrag folgt eine lebendige Diskussion. «Kann man einen Staat nur über Schuldenwirtschaft finanzieren? Sollte man nicht eher Sparen und nur das ausgeben, was man hat?» lautet eine Frage aus dem Publikum. Man sei heute der Überzeugung, dass ein Staat nicht wie ein Haushalt funktioniere, beginnt Laura Rischbieter ihre Antwort. «Wenn ein Staat die Ausgaben herunterfährt, bremst er dadurch das Wachstum, weil er selbst der grösste Wirtschaftsakteur ist. Das überleben Volkswirtschaften nicht gut.» Man sei in Fachkreisen deshalb der Meinung, dass der Staat über Investitionen und Auslandshandel den Konsum ankurbeln kann und deshalb die Verschuldung notwendig ist.

Das Referat von Laura Rischbieter war der Auftakt in die Vorlesungsreihe «Schuld und Schulden», die das Collegium generale während dem Herbstsemester anbietet. Weitere Forschende aus dem In- und Ausland werden sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven annehmen. Die Veranstaltungen finden jeweils am Mittwoch, 18.15 bis 19.45 Uhr, im Hauptgebäude der Universität, Hochschulstrasse 4, 3012 Bern, Auditorium maximum, Raum 110, statt.

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Zur Person

Prof. Dr. Julia Laura Rischbieter ist Juniorprofessorin für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. Zuvor war sie Dozentin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Humbolt-Universität zu Berlin. In Lehre und Forschung befasst sie sich mit moderner Wirtschaftsgeschichte im globalen Kontext, der Geschichte des Kapitalismus, Rohstoffkonflikten und Wissenschaftsgeschichte.

Das Collegium Generale

Das Collegium generale fördert den fächerübergreifenden Dialog und die Vernetzung innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende und Studierende aller Fakultäten. Die Veranstaltungen stehen auch einem breiteren Publikum offen, der Eintritt ist frei.

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Zum Autor

Ivo Schmucki arbeitet als Redaktor bei Corporate Communication an der Universität Bern.

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