Geisteswissenschaft beginnt dort, wo exakte Wissenschaft aufhört
Es ist eine schwierige Aufgabe für die Geistes- und Kulturwissenschaft, ihren Platz im faktenbasierten politischen Diskurs zu finden. Diese Fächer bieten der Politik aber einen grossen Mehrwert, wie Dr. Markus Zürcher, Generalsekretär der SAGW, am «Phil.-hist. Forschungstag» an der Universität Bern erklärte.
Die Stimme der Geistes- und Kulturwissenschaft müsse im heutigen politischen Diskurs mehr denn je gehört werden, so das Votum von Markus Zürcher. Der Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) hielt am «Phil.-hist. Forschungstag» Ende April 2018 die Keynote Lecture in der Unitobler. Die Sichtbarkeit dieser Fächer zu erhöhen ist aber kein leichtes Unterfangen, denn: «Sie haben ihren Platz im politischen Diskurs in der von Naturwissenschaften, Technik und Handel beherrschten Nachkriegszeit nicht gefunden.»
Ein schwerer Stand
Wie kam es überhaupt soweit, dass Fachleute aus Kultur- und Geisteswissenschaft in politischen Debatten meist nicht als legitime Expertinnen und Experten akzeptiert werden? «Es wird unterstellt, dass historische, kulturelle, gesellschaftliche, philosophische und ästhetische Fragen nicht mit Fakten, sondern mit Weltanschauungen und Meinungen verhandelt werden», so Markus Zürcher. Die Sachverständigen würden nicht als Experten wahrgenommen, «sondern eher als distanzierte Gelehrte im Deutungskampf.»
Hinzu kommt, dass es in der Nachkriegszeit ein grosses gemeinsames Ziel gab: Das Wirtschaftswachstum. Und man sei sich einig gewesen, dass neue Technologie und Verfahren das Wachstum antreiben. «Die rasante Entwicklung bestätigte dies. Die Naturwissenschaften, die Technik und die Ökonomie lieferten die erwartete Expertise.» Es bestand gar kein Bedürfnis nach geisteswissenschaftlichen Einschätzungen.
«Fakten an sich stiften keine Orientierung»
Später stand im politischen Diskurs nicht mehr die Technologie an sich im Zentrum, sondern viel mehr die Abschätzung ihrer Risiken. Dadurch hat sich der Status der Geisteswissenschaften aber nur wenig verändert. Denn die Politik setzte auch bei der Risikoabschätzung auf exakte statistische Verfahren und umfassende Datensätze. Dass diese evidenzbasierte Politik, die Evidence Based Policy, auch Schwächen hat, wurde aber schnell offenkundig. Wie Markus Zürcher erklärte, verstanden es sowohl Gegner als auch Befürworter einer politischen Massnahme, die Ergebnisse solcher Studien für die eigenen Zwecke zurechtzulegen. «Es wurde übersehen, dass logisch schlüssige und überprüfbare Fakten weder selbstredend noch selbsterklärend sind. Fakten und Informationen für sich stiften keine Orientierung», sagte Markus Zürcher. Zudem könne Politik in Zeiten von Alternative Facts und Alternative Realities auch ohne Wissenschaft funktionieren. «In all dem manifestiert sich das Elend der Evidence Based Policy.»
Diese Krise öffnet der Geistes- und Kulturwissenschaft die Tür zum politischen Diskurs. Dort, wo die exakten Wissenschaften an ihre Grenzen stossen, kann die Kultur- und Geisteswissenschaft ansetzen. Markus Zürcher beschrieb diesen Ansatzpunkt: «Es braucht einen Weltbezug, der es erlaubt, einzuordnen und zu bewerten.» Viele Studien aus der Soziologie, der Ökonomie, der Politologie, der Kommunikationswissenschaft und der Linguistik zeigten, dass die Art und Weise, wie sachliche Informationen dargestellt und formuliert werden, unser Verhalten beeinflussen. «Sie belegen die Grenze einer naiven Vorstellung von objektiver Informationsverarbeitung der Evidence Based Policy.»
Neue Herausforderungen als Chance
Neben den technologischen dürfen auch die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht vergessen werden. Markus Zürcher nannte ein Beispiel: «Eine freie Gesellschaft ist dazu verdammt, das Fremde und das Andere zu integrieren.» Hierzu brauche es eine laufende Überprüfung der Grundwerte und Normen des Zusammenlebens. «In der zunehmenden Pluralisierung wird die Geistes- und Kulturwissenschaft wichtiger. An ihr ist es, denen, die mit dem raschen sozialen Wandel nicht Schritt halten können, eine Stimme zu geben.» Das führte Markus Zürcher zu einem Ausblick: «Forschung ausserhalb des Modells und des Labors gewinnt an Bedeutung. Auf diesem Terrain, das sich weder durch Exaktheit, noch durch Konsistenz auszeichnet, wissen sich die Geistes- und Kulturwissenschaften trittsicher zu bewegen.»
Eine Frage aus dem Publikum lautete: Haben die Geisteswissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler ihre öffentliche Wahrnehmung selbst zu verantworten? Haben sie es versäumt, die Wichtigkeit ihrer Fächer zu kommunizieren? Markus Zürcher verneinte. «Umfragen zeigen, dass diese Wissenschaften einen hohen Status geniessen. Und die Studierendenzahlen sind in den letzten 15 Jahren stabil geblieben.» Es sei eine kluge Wahl, Geistes- oder Kulturwissenschaft zu studieren und die Arbeitsmarktchancen seien sehr gut. Markus Zürcher sieht das Problem bei der Politik: «Innovation und Wirtschaftswachstum werden höher gewichtet. Den Beitrag der Geistes- und Kulturwissenschaft zum Bruttosozialprodukt erkennt die Politik nur schlecht.»
Zur Person
Dr. Markus Zürcher studierte an der Universität Bern Schweizer Geschichte, Ökonomie und Soziologie. 1994 promovierte er am Institut für Soziologie der Universität Bern. Seit 1995 ist er für die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) tätig, seit 2002 als Generalsekretär. Zwischen 2000 und 2010 hatte er Lehraufträge für Soziologie und für Geschichte der Sozialwissenschaften an den Universitäten Freiburg und Bern.
Der Phil.-hist. Forschungstag
Der zweite «Phil.-hist. Forschungstag» fand am 30. April 2018 statt. Organisiert worden war er vom Walter Benjamin Kolleg und dem Dekanat der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. Ziel des Forschungstages ist, dass der Austausch und der Kontakt unter den Forschenden, Mitarbeitenden und Studierenden intensiviert wird und die Forschung an der Phil.-hist. Fakultät in ihrer ganzen Vielfalt präsentiert werden kann.
Zum Autor
Ivo Schmucki arbeitet als Redaktor bei Corporate Communication an der Universität Bern.