Keramik aus der südlichsten Stadt des Römischen Reichs
Ein Team des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Universität Bern hat im ägyptischen Syene (Assuan) im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte geschrieben: Die Forscherinnen und Forscher haben über mehrere Jahre hinweg tausende Keramikscherben aus römischer Zeit bestimmt, eingeordnet und datiert. Mit der Publikation von Professorin Stefanie Martin-Kilcher wird nun eine Lücke in der Handels- und Kulturgeschichte Oberägyptens geschlossen. An der Buchvernissage berichtete sie über die Resultate.
«Für einmal geht es um Archäologie vom südlichen, und nicht vom nördlichen Rand des Römischen Reichs», sagt Stefanie Martin-Kilcher zu Beginn der Buchpräsentation. Denn Syene, heute Assuan, war die südlichste Stadt im Imperium Romanum. Während acht Jahren hat sie dort zusammen mit ihrem Team tausende Scherben von Keramikgefässen im archäologischen Kontext dokumentiert, analysiert und ihr Alter bestimmt. Im Dezember 2017 war es dann soweit und die emeritierte Professorin der Abteilung Archäologie der Römischen Provinzen am Institut für Archäologische Wissenschaften konnte die Ergebnisse ihrer Arbeit an einer Buchpräsentation vorstellen.
Die reichhaltigen Funde in Syene zeigen zum ersten Mal die Entwicklung der Keramik in Oberägypten vom 1. bis zum 7. Jahrhundert auf und erzählen die Geschichte einer bedeutenden Stadt, deren römische Vergangenheit lange vernachlässigt worden war.
Handelsstadt mit blühender Keramikproduktion
Syene liegt am Nil, direkt unter dem ersten Katarakt, einer natürlichen Granitbarriere im Flusslauf. «Dort ist die Zone, wo man nicht mit dem Schiff durchkommt. Alles musste in Syene umgeladen werden», erklärt Martin-Kilcher. Das machte Syene zu einem wichtigen Handelszentrum, weil viele Waren über den Nil vom Mittelmeerraum ins weiter landeinwärts gelegene Nubien und umgekehrt aus Innerafrika nach Norden verhandelt wurden.
Die grossen Tonvorkommen um Syene bescherten der Stadt zudem gerade in römischer Zeit eine blühende Keramikproduktion, deren Erzeugnisse zeitweise weit nach Norden und Süden verkauft wurden.
Heute ist Assuan allerdings eine stark wachsende Stadt, und die moderne Bebauung bedroht die archäologische Substanz. Aus diesem Grund begann im Jahr 2000 das Schweizerische Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde mit planmässigen Rettungsgrabungen. 2003 hat die Abteilung Archäologie der Römischen Provinzen der Universität Bern die wissenschaftliche Auswertung des Fundmaterials übernommen. Unter der Leitung von Stefanie Martin-Kilcher wurde bis 2010 in Feldarbeit das Material gesammelt und seither bearbeitet und zur Publikation vorbereitet.
«Eine Demonstration der Leistungsfähigkeit»
Stefan Rebenich, der als Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät an der Buchpräsentation einige einleitende Worte sagte, betonte die Bedeutsamkeit der Arbeit von Stefanie Martin-Kilcher: «Das Buch ist eine Demonstration der Leistungsfähigkeit der archäologischen Forschung. Salopp gesagt hat man es mit einem Haufen Scherben zu tun, den man ordnen muss, um dann herauszufinden, wie alt er ist.» Erfreut war er aber auch über die Bestrebungen in der Nachwuchsförderung seiner Kollegin: «Ihre Arbeit ist ein wichtiges Beispiel für die Verbindung von Forschung und Lehre. Sie hat von Anfang an Studierende mitgenommen und ihnen die Möglichkeit gegeben, Praxiswissen zu erwerben.»
Nicht zuletzt anerkannte Rebenich, was die Archäologie für andere Wissenschaftszweige leistet: «Es war stets der Anspruch von Stefanie Martin-Kilcher, die Keramik nicht um ihrer selbst willen zu erfassen, sondern in übergreifende Überlegungen einzubinden. Hier ist es die Handelsgeschichte, die aus dem Staub des Niltals hervorkommt.» Die Publikation soll es ermöglichen, in Verbindung mit den Baubefunden und der Stadtentwicklung historische Fragestellungen zu beantworten und den Handel, den Austausch und die Lebensweise von damals zu analysieren.
Neue Zubereitungsarten erforderten neues Geschirr
Einige historische Bedeutsamkeiten der Keramikfunde konnte Stefanie Martin-Kilcher bereits an der Buchpräsentation preisgeben: «Dank hervorragender Tonlager wurde in Syene bereits früh Keramik hergestellt. Wir haben Keramik aus pharaonischer Zeit gesehen. In römischer Zeit erkennen wir Beeinflussungen und eigenständige Weiterentwicklungen keramischer Formen und Funktionen.» Ein starker Einschnitt seien Investitionen in neue, leistungsfähige Töpfereien im 4. und 5. Jahrhundert gewesen. «Wir sehen auch, dass versierte Handwerker aus dem Deltabereich des Nils nach Syene gekommen sind. Sie haben nicht nur die Kenntnisse neuer Formen mitgebracht, sondern auch ihren eigenen Verzierungsstil, die Bemalung», so Martin-Kilcher weiter.
Die verschiedenen Einflüsse in der Herstellung, Form, Funktion und Verzierung des Geschirrs veränderten das Aussehen der Fundstücke über die Jahrhunderte. Zum Beispiel beim Kochgeschirr: «Mit der Zeit kommen neue Formen hinzu, nicht einfach nur Kochtöpfe. Daran erkennt man, dass sich die Zubereitungsarten und damit die Ernährungsweise geändert haben», so Martin-Kilcher.
Schuttschichten als Jahrringe
Die Ausführungen von Stefanie Martin-Kilcher machten zudem deutlich, dass Archäologie eine Wissenschaft ist, die sich in den vielfältigen Überresten früherer Lebenswelten manchmal mit kleinen Scherben und grossen Bergen von Sand und Staub zu befassen hat: «Die archäologischen Strukturen von Syene sind unter meterhohen Schuttschichten begraben. Teilweise fanden die Ausgrabungen unter abenteuerlichen Bedingungen statt, absolut nicht Suva-konform.»
Die Forschenden haben sich vor allem mit Material aus Häusern und Gassen befasst, aber auch aus einem frühchristlichen, koptischen Heiligtum. Die sichtbaren Schichten in den archäologischen Ablagerungen geben Auskunft über die Siedlungsgeschichte: «Schichten sind manchmal wie Jahrringe. In den Gassen sind es pro Generation etwa 35 Zentimeter Material.» So kann man die Funde aus geschlossenen Schichtkomplexen miteinander vergleichen und deren Entwicklung aufzeigen. «In den Schichten des 1. und 2. Jahrhunderts findet man in der Masse der regionalen Keramik zuweilen Tafelgeschirr aus Kleinasien und Zypern, in der Spätantike aus Nordafrika», fügt Martin-Kilcher an. «Solche Stücke sind sehr wichtig, weil sie zeitlich genau zu bestimmen sind und daher als chronologische Marker dienen.»
Das Herzstück der neuen Publikation sind denn auch die sogenannten Seriationen, die Kombinationen der Keramik-Fundstücke in den einzelnen Schichten und Kontexten. Sie erlauben die Datierung und einen Blick in die bewegte Geschichte von Syene. «Für Oberägypten waren bisher kaum Funde aus römischer und byzantinischer Zeit publiziert. Und jetzt können wir der Forschung dieses wichtige Instrument zur Verfügung stellen», sagt Stefanie Martin-Kilcher zum Schluss zufrieden.
Zur Person
Stefanie Martin-Kilcher war von 1996-2010 ordentliche Professorin für Archäologie der Römischen Provinzen an der Universität Bern. Sie hatte Gelegenheit, das Fach an der Universität zu etablieren. In verschiedenen international vernetzten Projekten im In- und Ausland, vom römischen Heiligtum in Thun-Allmendingen über Importweine in der Grabausstattung reicher spätkeltischer Aristokraten der Treverer bis zu Ausgrabungen in einer Gräberstrasse bei Ravenna hat sie Studierende und junge Forschende integriert und teilhaben lassen. In ihren Forschungen stehen die Menschen der damaligen Epoche im Vordergrund, die Auswirkungen der römischen Expansion auf die Bevölkerung in den eroberten Gebieten, sowie Themen der Religion und der Grabsitten und die Handelsgeschichte.
Kontakt
Prof. em. Dr. Stefanie Martin-Kilcher
Universität Bern
Institut für Archäologische Wissenschaften, Archäologie der Römischen Provinzen
stefanie.martin-kilcher@iaw.unibe.ch
Zur Publikation
Stefanie Martin-Kilcher / Jacqueline Wininger
Syene III. Untersuchungen zur römischen Keramik und weiteren Funden aus Syene / Assuan (1.-7. Jahrhundert AD). Grabungen 2001 — 2004.
Mit Beiträgen von Sylvia Fünfschilling, Daniel Keller und Johanna Sigl. Beiträge zur ägyptischen Bauforschung und Altertumskunde, Band 20
ISBN: 978-3-935012-27-0.
Syene (Assuan) war die südlichste Stadt im Römischen Reich. Seit dem Jahr 2000 führt dort das Schweizerische Institut für Ägyptische Bauforschung und Altertumskunde in Kairo in Zusammenarbeit mit dem Ministry of Antiquities planmässige Rettungsgrabungen durch. In einem Projekt des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Universität Bern, Archäologie der Römischen Provinzen, wurden die Funde aus Kontexten der 1. bis 4. Kampagnen bearbeitet und ausgewertet. Zum ersten Mal kann die Entwicklung der Keramik in Oberägypten vom 1. bis zum 7. Jahrhundert AD anhand stratifizierter Kontexte aufgezeigt werden.
Die Publikation umfasst vier Teile:
Teil A: Befunde, Kontexte, Katalog, Abbildungen der Keramikensembles.
Teil B: Die Keramik: relative und absolute Chronologie, Typen, Synthese.
Teil C: Glas, Metall, Elfenbein, Tierknochen.
Teil D: Anhang Keramik: Bibliografie, Typologische Reihen, Farbtafeln.
Das Institut für Archäologische Wissenschaften (IAW)
Das Institut für Archäologische Wissenschaften (IAW) vereint vier archäologische Disziplinen unter einem Dach: Archäologie des Mittelmeerraumes, Archäologie der Römischen Provinzen, Prähistorische Archäologie und Vorderasiatische Archäologie. Die Forschungen des Instituts beruhen auf den regionalen und thematischen Schwerpunkten der vier Abteilungen und umfassen alle Epochen der Menschheitsgeschichte von den Anfängen bis zum Einsetzen der Schriftquellen im frühen Mittelalter. Archäologie ist eine auf die Interpretation von Materialien ausgerichtete historische Wissenschaft mit teilweise intensiven Bezügen zu den Naturwissenschaften: Ihre Quellen umfassen ein breites Spektrum von Sedimentproben, Keramikscherben, Mauerresten bis zu Skulpturen, Monumenten, Münzen und Schrifttafeln.
Zum Autor
Ivo Schmucki arbeitet als Redaktor bei Corporate Communication an der Universität Bern.