Sherlock: Ein Meisterdetektiv von Fans für Fans
Wer kennt ihn nicht, den exzentrischen Meisterdetektiv Sherlock Holmes? Die BBC-Fernsehserie «Sherlock» hat den Kriminalfällen der berühmten Romanfigur neues Leben eingehaucht. An einem Vortrag der Reihe «Buch am Mittag» erklärte Dr. Brigitte Frizzoni von der Universität Zürich, weshalb die Fanaktivitäten im Web grossen Anteil am Erfolg der Serie haben.
In den weltberühmten Originalerzählungen von Arthur Conan Doyle lösen der Detektiv Sherlock Holmes und sein treuer Begleiter Dr. John Watson Kriminalfälle im London des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die BBC-Produktion Sherlock transferiert die beiden ins 21. Jahrhundert und stattet sie mit Internet, Smartphones und Google aus. Das kommt gut an: Sherlock feierte grosse Erfolge und begeistert Fans rund um den Globus. Ebendiese Fans sind für die BBC-Serie aber weit mehr als nur Zuschauerinnen und Zuschauer – sie gestalten die Serie aktiv mit. Das erfuhr das Publikum beim Vortrag zum Thema Fanfiction von Brigitte Frizzoni, Geschäftsführerin des Instituts für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, im Rahmen der Reihe «Buch am Mittag» der Universitätsblibliothek in der Bibliothek Münstergasse.
Sherlock Holmes wird zu Internet-Phänomen
Staffel 2, Folge 3 «The Reichenbach Fall»: Sherlock Holmes’ ewiger Widersacher James Moriarty versucht Holmes ein für alle Mal zu zerstören. Er zwingt Holmes dazu, seine detektivische Genialität als Schwindel zu deklarieren und sich von einem Hausdach zu stürzen. Sherlock Holmes gesteht seinem Freund John Watson per Telefon, ein Betrüger zu sein und stürzt sich vor dessen Augen in die Tiefe.
«Sherlocks Todessturz führte zu einem Schub von Fanaktivitäten», sagt Brigitte Frizzoni. «In unzähligen Fanvideos wird erläutert, wie der geniale Sherlock es geschafft haben könnte, seinen Tod zu fingieren und Moriarty zu überlisten.» Die BBC-Serie und auch die Reaktion der Fans darauf beschreiben ein Phänomen, das um Sherlock Holmes entstanden ist: «Die Figur hat sich von ihrem Ursprung gelöst und ein kulturelles Eigenleben entwickelt. Sie hat einen quasirealen Status erlangt», erklärt Frizzoni. Mit zu dieser «Expansion» beigetragen hat die sogenannte Fanfiction, das heisst eigene Werke von Fans, die innerhalb einer Fangemeinschaft produziert werden.
Fanfiction gibt es in allen möglichen Variationen: Texte, Bilder (fanart), Videos (fanvids) oder auch Hörspiele (podfics), die auf Internet-Communityplattformen veröffentlicht werden. Allein auf der Plattform archiveofourown.org gibt es über 100’000 Werke zur Fernsehserie Sherlock. Solche Fangemeinschaften seien aber nichts Neues, sagt Brigitte Frizzoni: «Es ist vergleichbar mit den Fanclubs von früher. Und gerade Sherlock Holmes hatte bereits zu Arthur Conan Doyles Lebzeiten eine grosse Fangemeinde.» Neu sei aber die durch das Internet generierte Öffentlichkeit, Zugänglichkeit und Interaktivität, die zu einer quantitativ und qualitativ neuen Dimension von Fanfiction führe.
Shippers mögen Johnlock
Um die vielen Online-Fanaktivitäten hat sich eine ausdifferenzierte Fachterminologie entwickelt. Etwa das Verb «to ship», eine Abkürzung von relationship, das die Beziehung zwischen bestimmen fiktionalen Figuren bezeichnet. «Fans, die sich besonders für diese Beziehungen interessieren, werden shipper genannt.» Manchmal entstehen Beziehungen, die im Ausgangswerk gar nicht vorgesehen sind. So geschehen mit der beliebtesten «ship», diejenige zwischen John Watson und Sherlock Holmes. Sie wird auch «Johnlock» genannt. «Für Neulinge gibt es glücklicherweise zahlreiche Terminologie-Datenbanken, die ihnen dabei helfen, sich im Fanfiction-Universum zurechtzufinden», fügt Frizzoni an.
Mit der wachsenden Fanfiction-Kultur im Internet hat eine Vermischung von Produzierenden und Konsumierenden eingesetzt. Nicht nur Fans schöpfen aus ihrer eigenen Fantasie und denken sich neue Geschichten aus. Auch professionelle Storyliner haben die Aufgabe, aufgrund bestehender Figurenkonstellationen Narrationen weiterzuschreiben. «Die professionelle Serienproduktion und das Schreiben von Fanfiction gleichen sich in gewisser Weise an», beobachtete Brigitte Frizzoni. Ein Fan sei mit seinem grossen Wissen, seiner Detailtreue und seiner Kreativität eine perfekte Leserin oder ein perfekter Leser.
#sherlocklives
Das trifft auch auf die beiden Sherlock-Drehbuchautoren Steven Moffat und Mark Gatiss zu, die beide selbst seit jeher ausgesprochene Sherlock Holmes Fans sind. Brigitte Frizzoni erklärt, dass die beiden gewissermassen einen Kreislauf erschaffen: «Mit der Serie regen sie nicht nur Fanaktivitäten an, sondern sie reagieren ihrerseits auf Fanaktivitäten rund um Sherlock und integrieren diese in die Serie. Das ist nur konsequent.»
Staffel 3, Mini-Startfolge «Many Happy Returns»: Nach der Folge mit Holmes’ Todessturz wird in der Serie der Forensiker Philip Anderson, ursprünglich alles andere als ein Freund Sherlocks, plötzlich zum Sherlock-Fan. Er ist fest davon überzeugt, dass Holmes’ Tod nur vorgetäuscht war und folgt akribisch jedem kleinen Hinweis. In der ersten Folge von Staffel 3 gründet er den Fanclub «The Empty Hearse» (Deutsch: Der leere Sarg), eine Anspielung auf Arthur Conan Doyles Holmes-Kurzgeschichte «The Adventure of the Empty House». Dort muss er sich seinerseits mit haarsträubenden Erklärungsversuchen von Fans ärgern. Schliesslich verkünden die Medien Sherlock Holmes’ Rückkehr und auf Twitter wird der Hashtag #sherlocklives lanciert.
Auch an weiteren Stellen in Sherlock wird humorvoll auf die Fanfiction hingewiesen. «Anspielungen auf eine mögliche Homosexualität zwischen Sherlock und John durchziehen die gesamte Serie», ergänzt Brigitte Frizzoni. Dieses Aufgreifen von Fanaktivitäten in einer Serie, die Wechselwirkung zwischen Fankultur und fiktiver Serienproduktion, lasse sich als Ermächtigung der Rezipierenden deuten. «Die Fanaktivitäten und deren Einfluss ändern sich mit den neuen Kommunikationstechnologien grundlegend. Am Beispiel Sherlock lassen sie sich wunderbar zusammenfassen.»
Zur Person
Dr. Brigitte Frizzoni ist Geschäftsführerin des ISEK - Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Sie forscht unter anderem zu populären Genres und populärer Serialität.
Buch am Mittag
Die Vorträge der Reihe «Buch am Mittag» finden jeweils dienstags von 12.30 bis 13 Uhr im Veranstaltungssaal der Bibliothek Münstergasse statt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Zum Autor
Ivo Schmucki arbeitet als Redaktor bei Corporate Communication an der Universität Bern.