Die langen Beine des Bundesrates

Am Dienstag, 18. Juni 2019 findet an der Universität Bern das dritte Swiss Governance Forum mit Thema «Regieren in der Schweiz» statt. Adrian Vatter, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, hält die Keynote Speech. Im Interview spricht er über die Herausforderungen des Regierens.

Herr Vatter, was ist eigentlich gutes Regieren?
Adrian Vatter: Die empirische Demokratieforschung zeigt, dass diejenigen Regierungssysteme am besten funktionieren, die versuchen, in der Entscheidungsphase möglichst viele Interessen einzubinden und in der Umsetzungsphase dann aber relativ konsequent unitarisch agieren. Sie realisieren also aus zentralisierter Stelle, was zuvor unter der Beteiligung von vielen beschlossen wurde.

«Unser politisches System zeichnet sich grundsätzlich durch eine sehr hohe Stabilität aus, die eine Unabhängigkeit der Gewalten – wie Regierung und Parlament – ermöglicht», so Prof. Dr. Adrian Vatter. Bild: zvg

Welche Eigenschaften sind nötig für gutes Regieren?
Einerseits braucht es Führungsstärke, damit eine Verwaltung erfolgreich geleitet und die eigene Regierungsposition durchgesetzt werden kann. Andererseits ist aber auch Kompromissbereitschaft und Einfühlungsvermögen nötig, damit für ein Problem ein Konsens gefunden werden kann. Diese beiden Kernmerkmale widerspiegeln die zwei zentralen Organisationsprinzipien des Schweizer Regierungssystems – das Departemental- und das Kollegialitätsprinzip. Weiter wichtig für eine Regierungsperson ist eine gewisse Sachkompetenz, und damit die Bereitschaft, Akten zu wälzen und sich in verschiedene Themen einzuarbeiten. Aber auch Empathie gegenüber der Bevölkerung ist gefordert. Dies auch gerade in Hinblick darauf, dass man sich bei Volksabtimmungen mit eigenen Vorlagen immer wieder bewähren muss. Diese Eigenschaften zeichnen erfolgreiches Regieren weltweit aus, je nach Regierungssystem werden sie aber anders gewichtet.

Wie schätzen Sie das Schweizer Regierungssystem ein?
Unser System zeichnet sich grundsätzlich durch eine sehr hohe Stabilität aus, die eine Unabhängigkeit der Gewalten – wie Regierung und Parlament – ermöglicht. Die Regierungsmitglieder werden jeweils für vier Jahre gewählt und können nicht durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden, wie dies in parlamentarischen Systemen wie etwa Österreich der Fall ist. Unter normalen Umständen funktioniert das Schweizer System daher ganz gut. In Krisensituationen hingegen stösst der Bundesrat an seine Grenzen und das System ist überfordert. Beispiele sind etwa die Rettung der UBS oder die Libyen-Affäre. Wenn die Schweiz innerhalb kurzer Zeit und vor allem international unter Druck gerät, kann die Regierung häufig nicht schnell und konsequent reagieren. In diesen Fällen stellt der Zwang zum Kompromiss eher ein Hindernis dar. Schnelles und radikales Regierungshandeln steht dabei im Widerspruch zum Anspruch, die unterschiedlichen Interessen umfassend einzubinden und die Partizipationsbedürfnisse der verschiedenen sozialen Gruppen zu berücksichtigen. Es stellt sich die Frage, wie der langsame, aber gut funktionierende Entscheidungsprozess so fit gemacht werden kann, dass man eben auch in solchen Ausnahmesituationen rasch reagieren kann – ohne dabei die demokratischen Mitwirkungsansprüche komplett fallen zu lassen.

Das neu erschienene Buch «Blackbox Exekutive» thematisiert neue Herausforderungen für die Schweizer Regierung...
Diese Herausforderungen basieren auf einem Wandel der Schweizer Gesellschaft sowie der Schweizer Politik: Die zunehmende Medialisierung, Personalisierung, Europäisierung und schliesslich eben auch die zunehmende Polarisierung der Politik sind Kennzeichen davon. Dies alles führt dazu, dass zunehmend nach einer Regierung verlangt wird, die klar entscheiden und sich abgrenzen kann. Eine heterogene Gesellschaft, wie es die Schweiz mit unterschiedlichen Minderheiten ist, verlangt aber eigentlich nach einer Integration der einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen. Diese Entwicklungen stellen extrem hohe Ansprüche an den Bundesrat und wirken eben auch dem Kernprinzip der Kollegialität entgegen. Regierungsmitglieder müssen zwischen den beiden Organisationsprinzipien Kollegialität und Departement einen Spagat machen und brauchen dafür immer längere Beine. Das führt zu strukturellen Problemen des Schweizer Regierungssystems. Die einzelne Person wird immer stärker in den Vordergrund gestellt. Die Handlungen der Bundesräte und Bundesrätinnen werden davon abhängig gemacht, wie die eigene Person in den Medien dargestellt wird oder wie sie vom Parlament wahrgenommen werden. Im Moment gibt es auch wenig Anzeichen, dass wir zur Konkordanzkultur im klassischen Sinne mit einem politischen Stil des gütlichen Einvernehmens zwischen den Parteien zurückkehren. Es findet vielmehr ein Auseinanderdriften statt. Sowohl im Parlament, als auch bei Volksabstimmungen und in den Medien oder dem öffentlichen Diskurs lässt sich eine Zunahme der Konfliktualität beobachtet. Ich gehe davon aus, dass diese in der Tendenz eher noch zunehmen wird und damit die Herausforderungen für die Regierung noch grösser werden. Nicht zuletzt auch weil die politische Mitte mit CVP oder BDP einen sehr schweren Stand haben und zunehmend verlieren. Aber gleichzeitig sind es eben auch diese Parteien, die den Kitt darstellen, damit das Konkordanzsystem überhaupt bestehen und funktionieren kann.

Adrian Vatter: «Die Erhaltung des Kollegialitätsprinzips ist zentral für die Zukunftsfähigkeit der Schweizer Regierung.» Bild: Schweizerische Bundeskanzlei

Wie kann sich der Bundesrat unter diesen Bedingungen fit für die Zukunft machen?
Die Arbeitsbelastung ist ein grundsätzliches Problem, das gelöst werden sollte. Es gibt bereits unterschiedliche Reformvorschläge, wie die Erhöhung der Zahl der Bundesratsmitglieder von sieben auf neun oder elf oder die Erweiterungen der verschiedenen Ebenen, die eine Verbesserung bringen sollen. Ein anderes Problem ist allerdings, dass man einerseits vom Bundesrat fordert, dass er sich kollegial verhält und als Team auftritt. Andererseits werden bei der Wahl und vor allem auch bei der Wiederwahl der jeweiligen Bundesrätinnen und Bundesräte aufgrund der Einzelwahl Anreize gesetzt, dass sich jeder einzeln profiliert. Das Wahlverfahren des Bundesrates ist daher zu hinterfragen: Sollte nicht besser eine gemeinsame Listenwahl in Betracht gezogen werden, bei der Teams gegen einander antreten? Dieses Verfahren würde dem Gedanken der Kollegialität wohl besser nachleben, als das heute der Fall ist. Gerade die Erhaltung des Kollegialitätsprinzips ist zentral für die Zukunftsfähigkeit der Schweizer Regierung.

Austauschplattform Swiss Governance Forum

Das SGF wurde im Juni 2017 zum ersten Mal an der Universität Bern durchgeführt. Als Forum bietet es Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft eine Austauschplattform, um Chancen und Risiken etablierter Konzepte aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und zu hinterfragen. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis fördert den Wissenstransfer und den gegenseitigen Lerneffekt. Das SGF befasst sich in einem weiteren Sinne mit öffentlicher Verwaltung und Politik. Es bietet allen Interessierten die Möglichkeit, mehr über das Regieren in der Schweiz und dessen Herausforderungen und Entwicklungen zu erfahren.

Zur Person

Adrian Vatter ist seit 2009 Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Inhaber der Professur für Schweizer Politik.

Kontakt:

Prof. Dr. Adrian Vatter
Universität Bern, Institut für Politikwissenschaften
E-Mail: adrian.vatter@ipw.unibe.ch 
 

ZUR AUTORIN

Dominique Strebel ist seit Oktober 2018 Assistentin am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern und ist unter anderem für die Organisation des Swiss Governance Forums 2019 zuständig.

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