Ein Tauchgang in Chinas Philosophie

Seit über vierzig Jahren treffen sich Expertinnen und Experten der chinesischen Philosophie an der biennalen Konferenz der International Society for Chinese Philosophy (ISCP). Richard King, Professor für Philosophie an der Universität Bern, präsidiert die ISCP und organisiert die diesjährige Konferenz, welche zwischen dem 2. und 5. Juli zum ersten Mal in Bern stattfindet. Grund genug, mit ihm über diesen Anlass und chinesische Philosophie zu sprechen.

Von Philipp Emch 02. Juli 2019

Herr King, bald startet die Konferenz zu chinesischer Philosophie. Was erwartet uns?
Richard King: Vor allem sehr viel Abwechslung. Der Fokus liegt dieses Jahr auf den verschiedenen Arten der Argumentation innerhalb der chinesischen Philosophie. Es werden aber rund 250 Teilnehmende aus unterschiedlichen Bereichen anwesend sein. Mit Karine Chemla konnten wir beispielsweise eine Expertin für die Ursprünge der antiken chinesischen Mathematik als Rednerin gewinnen. Des Weiteren erwartet uns eine Präsentation zur antiken chinesischen Medizin von Paul Unschuld oder ein Vortrag von Guorong Yang, welcher aktuell zu chinesischer Umweltethik forscht. Besonders freue ich mich auch auf Iso Kern, der vor über dreissig Jahren seine Forschungen zu Chinesischer Philosophie an der Universität Bern aufnahm.

Prof. Dr. Richard King, Institut für Philosophie. © Universität Bern / Manu Friederich
Prof. Dr. Richard King, Institut für Philosophie. © Universität Bern / Manu Friederich

Weshalb interessieren Sie sich gerade für chinesische Philosophie? Mit zwanzig Jahren verliebte ich mich in die Ästhetik der chinesischen Kalligraphie. Da mir aber das Schreiben von mir unverständlichen Zeichen sinnlos erschien, beschloss ich, in Berlin Sinologie und Philosophie zu studieren. Neben der chinesischen Philosophie fasziniert mich genauso diejenige des antiken Griechenlands, weshalb ich es mir zur Aufgabe machte, die Philosophien dieser beiden Hochkulturen zu vergleichen. Momentan arbeite ich in meinem Projekt Green Antiquity daran, chinesische und griechische Umweltethiken zu erforschen. Beide Philosophien anerkannten beispielsweise einen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Wohlergehen und demjenigen der Natur – eine Erkenntnis, die lange vergessen ging.

Sie haben vom Vergleich der beiden Philosophien gesprochen. Worin liegen die grossen Unterschiede zwischen den chinesischen und den griechischen philosophischen Traditionen?
Es gibt innerhalb beider philosophischer Traditionen verschiedene Strömungen, welche sich oft stark unterscheiden. So etwas wie eine unterschiedliche Essenz der chinesischen oder griechischen Philosophie gibt es in dem Sinn aber nicht. Vielmehr findet sich eine Reihe an Gemeinsamkeiten. Die Chinesen wie die Griechen begannen beide sehr früh mit der Entwicklung von Logiken oder der Suche nach Kategorien innerhalb des natürlichen Geschehens, was den Grundstein der heutigen biologischen Taxonomien legte. Beide philosophischen Kulturen suchten auch beständig nach intelligenten Lebensweisen für das Individuum, welche nicht nur einem selbst, sondern auch der Gemeinschaft dienen sollten. Nicht zuletzt ist auch von beiden Kulturen viel humorvolle Polemik überliefert, mit welcher sich die rivalisierenden Schulen gegenseitig bedachten.

Können diese Gemeinsamkeiten durch einen Wissenstransfer zwischen den beiden Kulturen erklärt werden?
Wohl kaum. Alexander der Grosse drang bis Pakistan vor und der Austausch zwischen den Römern und Chinesen beschränkte sich auf den Handel mit Glas und Seide. Ein europäisches Bewusstsein von China erwuchs erst Ende des 16. Jahrhunderts, als jesuitische Missionare wie Athanasius Kircher chinesische Schriften übersetzten und nach Europa schickten. Der anfängliche Zugang zur chinesischen Philosophie war dadurch stark durch eine christliche Auslegung dieser Schriften geprägt.

Baut die heutige chinesische Philosophie auf ihren traditionellen Wurzeln, oder hat sie sich inhaltlich und stilistisch derjenigen des Westens angenähert?
Das ist eine brisante Frage. Durch die historischen Umwälzungen hatte die traditionelle chinesische Philosophie lange Zeit einen schweren Stand. Anfangs des letzten Jahrhunderts wurde der philosophische Wortschatz stark demjenigen des Westens angepasst und marxistische und hegelianische Strömungen verdrängten die chinesische Philosophie zusehends. Zum dramatischen Bruch mit dieser kam es schliesslich durch die Kulturrevolution. Seit dreissig Jahren gibt es jedoch grosse finanzielle und politische Bemühungen, die gebrochene philosophische Tradition wiederzubeleben – so nimmt eine Art Konfuzianismus gerade eine irre Fahrt auf! Da die fördernde Politik und die geförderte Philosophie aber in einem Spannungsverhältnis stehen, ist die Situation für chinesische Akademiker und Akademikerinnen nicht immer einfach.

Auf dem Flyer der Konferenz erwähnen Sie den daoistischen Philosophen Zhuangzi. Welchen Ratschlag würde er uns heute mit auf den Weg geben?
Zhuangzi lehrt uns, dass uns die Konzentration auf das Einzelne blind macht gegenüber allem anderen, weshalb wir auch das Einzelne nicht verstehen können. Dieser Aspekt seines Denkens wird auch in der chinesischen Anekdote über einen Zikadenfänger reflektiert, wonach dieser keine Zikade fängt, wenn er sich krampfhaft auf das Fangen der Zikade konzentriert. Unserer Gesellschaft würde Zhuangzi deshalb vielleicht raten, Entscheidungen nicht nur eindimensional zu fällen, sondern die Situation als ganze zu erfassen.

Zum Autor

Philipp Emch studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Bern. Er arbeitete als Autor für Kunstbücher und als Assistent am Philosophischen Institut der Universität Bern.

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