Visionen bedeuten Hoffnung in einer Zukunft ohne Arbeit
Die renommierte Wirtschaftsanthropologin Susana Narotzky und zwei Mitglieder ihres Forschungsteams waren Gäste der diesjährigen Anthropology Talks des Instituts für Sozialanthropologie an der Universität Bern. Während zweier Tage stellten sie ihr Forschungsprojekt «Grassroots Economics» (GRECO) vor, das sich mit den Auswirkungen von staatlichen Sparmassnahmen auf den Alltag der Menschen in Südeuropa befasst.
Die Wirtschaftsanthropologie beschäftigt sich seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts kritisch mit den gängigen theoretischen Modellen der Wirtschaftswissenschaften und versucht, ein vielschichtigeres und umfassenderes Verständnis für die Logiken und Praktiken zu entwickeln, die dem wirtschaftlichen Handeln der Menschen zugrunde liegen. Das Forschungsprojekt «Grassroots Economics: Meaning, Project and Practice in the Pursuit of Livelihood», für welches Prof. Susana Narotzky von der Universität Barcelona einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten hat, basiert auf ethnographischer Feldforschung in Spanien, Portugal, Griechenland und Italien zwischen 2015 und 2016. Erforscht wurden die weitreichenden Effekte und Konsequenzen von Austerität – der staatlichen «Sparpolitik» – auf das alltägliche wirtschaftliche Handeln und das Verständnis von Menschen darüber vor Ort. Im Rahmen der Anthropology Talks des Instituts für Sozialanthropologie der Universität Bern am 23. und 24. Mai 2019 präsentierte und diskutierte Narotzky zusammen mit Patricia Matos und Antonio Maria Pusceddu aus ihrem Team ihre Forschungsergebnisse.
Austerität bedroht Existenz und Würde der Menschen
Dass ein Leben führen nicht nur überleben bedeutet, sondern dass es entscheidend von Vorstellungen und Werten geprägt ist, welche definieren, was ein wertvolles und ein lebenswertes Leben ist, stand dann im Zentrum der Keynote Lecture von Susana Narotzky. Der Vortag «Valuations of Worth: Privilege, Dignity, and the Sense of a Future in Southern Europe under Austerity» zeigte eindrücklich, dass die Austeritätspolitik nach der letzten Finanzkrise 2008 in südeuropäischen Ländern zu einschneidenden Sparmassnahmen im öffentlichen Sektor, Steuererhöhungen, Lohnsenkungen und einer Zunahme von Arbeitslosigkeit sowie unsicheren Arbeitsverhältnissen führten.
Die von supranationalen Organisationen verordneten «Rettungsmassnahmen» erschwerten bis verunmöglichten jedoch nicht nur das materielle Überleben der Menschen, sondern wurden auch als eine Attacke auf die Würde und Identität der betroffenen Menschen empfunden. Sie stellen gesellschaftlich verankerte Werte wie zum Beispiel finanzielle Unabhängigkeit, Gleichheit, Gleichberechtigung, sozialer Aufstieg, kollektiv organisierte soziale Absicherung und/oder die Unversehrtheit des Körpers zur Disposition. Zudem führten die politischen und wirtschaftlichen Reformen in weiten Teilen der Bevölkerung zu einem Bruch bezüglich der Ansprüche an staatliche Institutionen und den Erwartungen an die Zukunft. Die Austeritätspolitik hat somit nicht nur massive Auswirkungen auf die aktuelle Lebenssituation der Familien, sondern stellte darüber hinaus die soziale Reproduktion über die Generationen hinweg in Frage.
Arbeit als Lebensgrundlage und Problemherd
Die Workshops boten dann Gelegenheit, exemplarisch in die Tiefe zu gehen. Studierende, Angehörige des Instituts, sowie weitere interessierte Sozialanthropologinnen von anderen Instituten aus der Schweiz diskutierten gemeinsam Texte von Patricia Matos und Antonio Maria Pusceddu.
Pusceddus Workshop stellte ein hoch aktuelles Dilemma ins Zentrum: der Interessenskonflikt zwischen dem Erhalt von Arbeitsplätzen und dem Schutz der Gesundheit und der Umwelt. Am Beispiel der süditalienischen Industriestadt Brindisi zeigte er auf, wie die fossile Energieindustrie die Gesundheit der Bewohner schleichend, aber sukzessive bedroht und ihre Umwelt irreversibel verschmutzt. Gleichzeitig stellen die Jobs in den Industrieanlagen aber auch die essentielle Lebensgrundlage für selektive Gruppen der Bevölkerung dar, welche derzeit keine alternativen Arbeitsmöglichkeiten hat.
Wie Austerität auch durch und mit dem Körper erfahren wird wurde auch mit Patricia Matos diskutiert. Sie zeigte auf, wie portugiesische Frauen der Arbeiterklasse – oft die einzigen Erwerbtätigen der Familie – unter zunehmender physischer und psychischer Erschöpfung durch harte manuelle Arbeit und permanente Sorge um andere leiden. Gleichzeitig betonte Matos jedoch auch, wie diese Frauen versuchen, ihre soziale Position und Funktion innerhalb der Familie und der Gesellschaft zur Grundlage für die Rechtfertigung und Legitimation von Bedürfnissen, Ansprüchen und Rechten zu machen.
Visionen für eine bessere Zukunft
Die Gefahr, dass die bereits zehn Jahre andauernde Krise die menschliche Fähigkeit zu hoffen bedroht, zog sich durch die ganze Veranstaltung hindurch. Narotzky schloss auch ihre Keynote damit zu betonen, dass ein Verlust des Glaubens an die Möglichkeit der Veränderung der Lage die Fähigkeit der Menschen zur Mobilisierung und zum politischen Protest massiv einschränkt. Denn Ideologien und Visionen seien zentral, um einen Weg in eine bessere Zukunft aufzuzeigen. Diese zu liefern, sagte sie, sei mitunter Aufgabe der Sozialanthropologie.
DAS INSTITUT FÜR SOZIALANTHROPOLOGIE
Das Institut für Sozialanthropologie erforscht gesellschaftliche Makroprozesse aus einer lebensweltlichen Mikroperspektive. Das heisst, es erforscht in teilnehmender Beobachtung, wie Menschen in unterschiedlichen Regionen der Welt mit unterschiedlichen lokalen Traditionen globale ökonomische und kulturelle Prozesse wahrnehmen und auf sie reagieren. Das Institut betreibt Forschung zu akuten gesellschaftlichen Problemen, in denen diese Perspektive kritisches Orientierungswissen bereitstellt. Sein Anspruch ist es, die gängigen eurozentrischen und technokratischen Sichtweisen auf die Welt um multiple Sichtweisen aus diversen, auch nichtprivilegierten Standpunkten zu erweitern. Die Sozialanthropologie, wie sie am Institut in Bern betrieben wird, versteht die Menschen, die sie untersucht, als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelten, und wendet die Methoden des Faches an, um dieses lokale Wissen in einen wissenschaftlichen Diskurs zu übersetzen.
Zu den Personen
Susana Narotzky ist Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Barcelona. Sie war Präsidentin der European Association of Social Anthropologists (EASA), Mitglied des Advisory Council der Wenner-Gren Foundation für anthropologische Forschung (New York), Secretary der American Anthropological Association (AAA) und zweimalige Gewinnerin des Icrea Academia Award des Catalan Institute for Research and Advanced Studies. Ihre neuesten Arbeiten befassen sich mit Themen wie Wirtschaften in einer Zukunft ohne Arbeit, politische Mobilisierung und soziale Reproduktion.
Patricia Matos ist Post-Doc an der Universität Lissabon und Fellow an der Universität Barcelona. Sie arbeitet derzeit an einer Monographie zu Prekarität im Callcenter Sektor in Portugal, welche bei Manchester University Press erscheinen wird.
Antonio Maria Pusceddu ist invited researcher an der Universität Barcelona. Sein derzeitiges Forschungsinteresse gilt der Deindustrialisierung, Umweltzerstörung und der postindustriellen Transformation in Italien.
Zu den Autorinnen
Johanna Mugler arbeitet als Post-Doc am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Ihre fiskalanthropologische Forschung beschäftigt sich mit der Frage wie sich die wachsende Diskrepanz zwischen territorial organisierten Nationalstaaten und zunehmender transnationaler Organisation der Wirtschaft auf institutionelle Formen der Umverteilung auswirken.
Corinne Schwaller ist Post-Doc am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Sie hat vor Kurzem ihre Dissertation zu Prekarität, Bedeutung von Arbeit und Zukunftsperspektiven gut ausgebildeter junger Erwachsener in Barcelona beendet.