Walter Benjamins Anfänge in Bern
Vor 100 Jahren promovierte der Philosoph Walter Benjamin in Bern über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Auf der Flucht vor dem Ersten Weltkrieg bedeuteten die wenige Jahre in der Schweiz für ihn ein «erstes Exil». Neben seiner Kunstphilosophie konzipierte er mit Gershom Scholem dort auch die «Universität Muri».
Die Anfänge von Walter Benjamins philosophischem Werk liegen in Bern. Weniger als ein Zauber, wohnt ihnen weit eher eine existentielle Notwendigkeit inne, die Benjamins Werk in all seinen poetischen und spekulativen Facetten auszeichnet. Die Dringlichkeit seiner Gesten im Kern seines Werkes wird umfasst von den politischen Ereignissen der Zeit. Aus einer jüdischen Familie in Berlin-Grunewald stammend, hatte Benjamin vor dem ersten Weltkrieg zunächst in Freiburg im Breisgau, in Berlin und in München studiert. Als überzeugter Pazifist übten die Kriegsereignisse einen enormen Druck auf ihn aus, dem sich Benjamin über eine Flucht aus Deutschland zu entziehen suchte. Fritz Heinle und Rika Seligson, zwei Freunde aus dem Umkreis der Jugendbewegung, hatten sich am 8. August 1914 das Leben genommen; sein Bruder Georg Benjamin, der später im KZ Mauthausen sterben sollte, war als Soldat an der Kriegsfron in Verdun. Benjamin versuchte, einer Einberufung und Nachmusterung mit allen Mitteln zu entkommen und begab sich dafür 1916 in ein auf Ischias-Erkrankungen spezialisiertes Sanatorium in Dachau. Erst das ärztliche Attest sicherte ihm in der Schweiz einen Kuraufenthalt und später ein Studium. Im Sommer 1917 zog der 25-jährige Philosophiestudent mit seiner Frau, der Wiener Schriftstellerin und Übersetzerin, Dora Sophie Benjamin, nach Bern.
Für eine Geschichtsphilosophie nach Kant und eine Kunstphilosophie nach Goethe
Nach einer ersten Zeit an der Hallerstrasse 26 im Länggasse-Quartier, lebte Benjamin ab Sommer 1918 mit seiner Frau und seinem in Bern geborenen Sohn in Muri. Mit Gershom Scholem entwarf er dort die «Universität Muri»: Eine Parodie auf die gewollte Strenge und das hohle Pathos des akademischen Betriebs. Benjamin sah darin auch ein philosophisches Problem: Seine Konfrontation mit den herkömmlichen akademischen und philosophischen Traditionen wird nicht nur in seinem ersten abgebrochenen Dissertationsprojekt zu Kants Geschichtsphilosophie deutlich. Auch frühe Briefe an Scholem verdeutlichen seinen Wunsch nach einer Überwindung philosophischer Positionen – besonders derjenigen von Platon, Kant, der Marburger Schule und Heidegger. Dies zugunsten einer Auseinandersetzung mit den «rohen Dingen» als den zu rettenden Phänomenen der empirischen Welt. Bereits seine frühesten Texte zeigen ein materialistisches geschichtsphilosophisches Projekt an; etwa die entschiedene Kritik der Phänomenologie in Eidos und Begriff (1916) oder die ambitionierte Kant-Kritik in Über das Programm der kommenden Philosophie (Winter 1917/18). Als sich die Suche nach einer Geschichtsphilosophie in Kants Schriften aber zunehmend als vergeblich erwies, wandte sich Benjamin mit seinen Studien der auf Goethe folgenden Kunstphilosophie zu. In der deutschen Frühromantik, bei Friedrich Schlegel und Novalis, sah Benjamin eine erste Möglichkeit, seine frühe Intuition einer Überkreuzung von Kunst und Kritik, Poesie und Philosophie systematisch zu durchdenken. So promovierte er schliesslich im Sommer 1919 an der Universität Bern über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik.
Von Studien zur Romantik zum deutschen Trauerspiel
Benjamins Dissertation zur Frühromantik fiel in politischer Hinsicht in das radikale Klima nach dem Ersten Weltkrieg. In denselben Jahren erschienen etwa Ernst Blochs Geist der Utopie (1918), Carl Schmitts Politische Romantik (1919) und Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung (1921). Romantische Motive finden sich auch in den letzten Briefen der Revolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Benjamin argumentierte aber auch hier weniger aktivistisch – stattdessen sah er im «Reflexionsmedium» der Kunst eine potentielle Resistenz. In seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925) arbeitete Benjamin diese Argumentationslinie noch präziser heraus.
Walter Benjamin und Paul Klee
In den frühen Studien zu Hölderlin, Goethe und der Frühromantik wird deutlich, dass Benjamin sein Hauptprojekt einer Kunstphilosophie primär über Literatur und Dichtung fundierte. Unter den Modernen des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigten Benjamin dann aber vor allem die bildende Kunst in Zeichnung und Malerei sowie später auch die Fotografie und der frühe Spielfilm. In Bern formulierte er eine formorientierte Bildtheorie. Diese richtete sich gegen eine modernistische Trennung von abstrakter Linie und Farbe, führte aber die Differenz von Linie/Grund und das grundlose, weil an einem Körper erscheinende («emanierende») Mal ein. Benjamin dürfte in Bern auch erstmals auf das Werk von Paul Klee aufmerksam geworden sein: «Der einzige Maler unter den neuen der mich berührt hat, ist Klee…», schrieb Walter Benjamin in einem Brief an Scholem. Vier Zeichnungen von Klee aus dem Jahre 1919 zeigen den «denkenden», «empfindenden», «abwägenden» und «formenden Künstler» – eine graphische Entfaltung künstlerischer Arbeitsmodi, deren konstitutives Ineinander zur gleichen Zeit in Benjamins Dissertation zur Frühromantik aus textlichen Fragmenten und Denkbildern begrifflich entfaltet wird.
Angelus Novus
Dass sich in der Berner Zeit vieles anbahnt, was Benjamin in den 20 verbleibenden Jahren seines kurzen Lebens beschäftigen sollte, wird sicht- und lesbar, in der Weise, wie er die Bilder von Paul Klee im Zeichen seiner Kunst- und Geschichtsphilosophie integrierte. Klee selbst hatte seine Kunst als «kühle Romantik» charakterisiert. Benjamin kaufte im Jahr der Publikation seiner Berner Dissertation die berühmte Zeichnung Angelus Novus von Paul Klee. Noch kurz vor seinem Selbstmord 1940 an der spanisch-französischen Grenze in Portbou sollte er sich in einer seiner nach wie vor schwierigsten Thesen zum Begriff der Geschichte an dieses kleine Blatt erinnern.
In dem poetisch-philosophischen Bild des «Engels der Geschichte» verdichtet sich vielleicht all das, was Benjamin auf der Suche nach einem Lebensthema in Kants Geschichtsphilosophie nicht berücksichtigt sah, aber politisch vergegenwärtigen wollte:
«Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt […] Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet […] Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt […] Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.» (Walter Benjamin, «Über den Begriff der Geschichte», 1940, These IX).
Walter Benjamin Konferenz
Walter Benjamin wurde am 27. Juni 1919 an der Universität Bern promoviert. Genau 100 Jahre später ist dies Anlass, die alle zwei Jahre stattfindende Konferenz der International Walter Benjamin Society in Bern durchzuführen und dabei Benjamins Anfänge zu betrachten. Sechs themenbezogene Sektionen zeigen, wie stark Benjamins Denken mit fast allen geisteswissenschaftlichen Fächern verbunden ist, aber in jedem Fall einen inter- und transdisziplinären Zugang erfordert. Eine Lesegruppe zielt darauf ab, eine lebhafte Diskussion über zwei von Benjamins Texten zu führen. Die Konferenz findet vom 26. bis 29. Juni 2019 an der Universität Bern in der Schweiz statt. Sie wird von der International Walter Benjamin Society, dem Walter Benjamin Kolleg und dem Robert Walser-Zentrum veranstaltet.
Walter Benjamin Kolleg
Das Walter Benjamin Kolleg ist eine inter- und transdisziplinäre Forschungs- und Lehreinrichtung an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. Es stellt Strukturen für eine systematische Förderung und Vernetzung des wissenschaftlichen Nachwuchses bereit und unterstützt interfakultäre und interuniversitäre Kooperationen. Benannt ist das Kolleg, das 2015 gegründet und am 26. April 2016 feierlich eröffnet wurde, nach Walter Benjamin (1892-1940). Der Philosoph studierte an der Universität Bern und wurde hier im Jahr 1919 mit einer Arbeit zum «Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik» promoviert. Der Name steht für Benjamins Konzept einer kreativen Verbindung der verschiedensten disziplinären Ansätze in den Geisteswissenschaften.
ZUM AUTOR
Toni Hildebrandt ist seit 2014 wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für die Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. Er studierte in Jena und Weimar sowie in Italien und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am NFS Bildkritik «eikones». 2014 promovierte er an der Universität Basel. Seine Dissertation Entwurf und Entgrenzung. Kontradispositive der Zeichnung 1955-1975 wurde 2018 mit dem Wolfgang-Ratjen-Preis ausgezeichnet.