Wir sollten uns mehr Schlaf gönnen

Viele von uns schlafen zu wenig, sagen die Schlafforscher Claudio Bassetti und Fred Mast in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins der Universität Bern: Das sei nicht nur schlecht fürs Gehirn, es führe auch zu unreflektierten Handlungen und begünstige Krankheiten.

Interview: Timm Eugster 22. Februar 2019

Herr Bassetti, Herr Mast – wie lange haben Sie letzte Nacht geschlafen?
Claudio Bassetti: Ich habe sehr kurz geschlafen, 6 Stunden, ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag, den ich mit Fussball und meinen Kindern ausklingen liess. Dann musste ich sehr früh aufstehen, so dass es wieder einmal eine kurze Nacht gegeben hat. Das ist bei mir nicht ideal, weil ich von Natur aus ein Langschläfer wäre, was ich mir aber nicht so oft gönne.

Fred Mast: Ich habe auch Fussball geschaut, dann kam mein Sohn noch mit Fragen zu seinen Mathematikaufgaben, ich habe sicher nicht mehr als 6 Stunden geschlafen. Ich brauche nicht so viel Schlaf, aber wenn es mehrere Nächte nur 6 Stunden sind, dann ist es schon zu wenig.

Claudio Bassetti (links) und Fred Mast wollen als Koordinatoren der Interfakultären Forschungskooperation IFK «Decoding Sleep» dem Schlaf auf die Schliche kommen. Bild: zvg
Claudio Bassetti (links) und Fred Mast wollen als Koordinatoren der Interfakultären Forschungskooperation IFK «Decoding Sleep» dem Schlaf auf die Schliche kommen. Bild: zvg
© Universität Bern / Bild: Adrian Moser
© Universität Bern / Bild: Adrian Moser

Ideal wären ja acht Stunden, heisst es.
Bassetti: Es gibt echte Kurzschläfer und echte Langschläfer, aber die allermeisten brauchen schon 7–8 Stunden. Viele schlafen zu wenig, und das ist nicht gut.

Weshalb ist zu wenig Schlaf ein Problem?
Mast: Schlafmangel beeinträchtigt die Stimmung, und die schlechte Laune färbt auch Entscheidungen ein, man tendiert zu unreflektierten Handlungen.

Bassetti: Genügend Schlaf ist auch essentiell für die Gesundheit. Wir haben zunehmend Daten, die dafür sprechen, dass Schlafmangel langfristig das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten, aber auch Krebs und Demenz erhöht.

Neugeborene schlafen in den ersten Wochen bis zu 20 Stunden pro Tag. Warum das?
Bassetti: Schlaf und Lernen hängen zusammen. Eine der gängigen Theorien ist, dass zur Reifung des Gehirns viel Schlaf benötigt wird, damit Lernprozesse richtig etabliert werden können – gerade bei Neugeborenen, die sehr viel Neues aufnehmen und auswerten müssen. Es gibt aber auch Hinweise, dass gewisse Nervensysteme im Gehirn bei der Geburt noch nicht genügend gereift sind, dass man längere Zeit wach sein könnte. Der ursprüngliche Zustand des Gehirns ist das Schlafen – um wach sein zu können, braucht es ein gewisses Mass an Organisation und Reifung.

Babys schlafen bis zu 20 Stunden pro Tag – damit ihr Gehirn reifen kann. © iStock
Babys schlafen bis zu 20 Stunden pro Tag – damit ihr Gehirn reifen kann. © iStock

Im Schlaf sind wir von den Vorgängen der Aussenwelt abgeschottet – und damit wehrlos wie ein Baby. Ist es nicht erstaunlich, dass sich so etwas wie Schlaf in der Evolution durchsetzen konnte?
Mast: Ja, im Schlaf kann man uns die Vorräte stehlen oder sogar die Kinder. Offenbar ist Schlaf so extrem wichtig, dass man diese Gefahr in Kauf genommen hat.

Bassetti: Auch bei Tieren, die kein so kompliziertes Gehirn haben wie wir – etwa Fruchtfliegen oder Würmer – sind schlafähnliche Zustände vorhanden. Entzieht man ihnen diese Ruhephasen, müssen sie sie nachholen. Das spricht für eine Urfunktion des Schlafs, die vielleicht mit Energieersparnis und Stoffwechsel zu tun hat und nicht nur mit dem Gehirn, wie viele Menschen denken.

Mast: Interessant ist schon, dass der Schlaf beim Menschen mit dem Verlust des Bewusstseins einhergeht – man könnte sich ja auch andere, weniger «dramatische» Formen vorstellen, etwa Phasen der Inaktivität.

Bassetti: Das ist schon ganz speziell – die grosse Frage ist eben noch längst nicht beantwortet: Warum schlafen wir?

Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, haben Sie zusammen die Interfakultäre Forschungskooperation IFK «Decoding Sleep» an der Universität Bern initiiert. Neun verschiedene Forschungsgruppen sind daran beteiligt. Warum dieser breite, interdisziplinäre Ansatz?
Bassetti: Das wäre jetzt wirklich komplett falsch, wenn man ein so komplexes Phänomen wie Schlaf rein medizinisch, rein physiologisch, rein psychologisch oder rein computerwissenschaftlich angehen würde. Wir sind sehr froh, dass die Universität Bern die Bedeutung des multidisziplinären Ansatzes bei der Erforschung von Schlaf gesehen und anerkannt hat.

Wie gehen Sie das jetzt konkret an?
Mast: Wir sind eine Volluniversität, was ein Vorteil ist, wenn man interdisziplinär arbeiten will. Nur schon innerhalb der Medizin ist der Fokus breit: Normalerweise sitzt man nicht mit Pneumologen und Infektiologen am Tisch, wenn es um Schlaf geht. Dann spannen wir den Bogen von der Psychologie, die mehrheitlich mit dem gesunden Menschen arbeitet, bis zur Psychiatrie. Bei den Naturwissenschaften haben wir Mathematikerinnen und Computerspezialisten, die Prozesse modellieren können, und wir haben die experimentelle Forschung dabei, die Verhalten und Hirnmechanismen in Bezug auf Schlaf bei Mäusen erforscht. Das Ziel dieser gemeinsamen Projekte ist es auch, auf neue Ideen zu kommen, von denen wir noch nichts wissen, und die nur zustande kommen können, wenn man die Ansätze und Methoden der anderen besser kennenlernt. Das kann sehr stimulierend sein, man muss aber auch bereit sein, seine bisherigen Theorien und Ansätze in Frage zu stellen.

Die Hoffnung ist, die Forschung so auf einen neuen Stand zu bringen. Bringt dies auch der Gesellschaft einen konkreten Nutzen?
Bassetti: Schlafstörungen nehmen zu, das dadurch verursachte Leid und der wirtschaftliche Schaden sind enorm. Forschung ist hier eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wir haben klare Hinweise, dass Krankheiten wie Übergewicht, Zuckerkrankheit, Schlaganfall oder Herzinfarkt mit Schlafmangel in Verbindung stehen. Diesen Faktor untersuchen wir in den Projekten, die wir jetzt gestartet haben. Wir versprechen uns auch neue Strategien für eine frühere und präzisere Diagnose und für eine gezieltere personalisierte Therapie von Schlaf-Wach-Störungen, aber auch für neurologische, psychiatrische und internistische Erkrankungen. Und wir wollen dazu beitragen, einen gesunden Umgang mit Schlaf zu fördern.

Mast: Die Leute beschäftigen sich heute stärker mit ihrem Schlaf, er wird nicht mehr einfach passiv hingenommen, sondern zum Gegenstand der Beobachtung gemacht. Man denke nur an all die Gadgets und Apps, um den Schlaf auszuwerten. Der Durst nach Wissen über den Schlaf steigt.

Bassetti: Und diesen Durst möchten wir stillen.

Claudio Bassetti

Claudio Bassetti ist ordentlicher Professor für Neurologie und Direktor der Universitätsklinik für Neurologie. Er ist zudem Sprecher des Neurozentrums am Inselspital sowie Vizedekan Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bern.

Claudio Bassetti ist im Kanton Tessin aufgewachsen und hat an der Universität Basel Medizin studiert, wo er 1986 promovierte. 1992 erwarb er an der Universität Bern den Facharzttitel in Neurologie. Ab 1998 lehrte Bassetti als Privatdozent an der Universität Bern, ab 2000 als Extraordinarius an der Universität Zürich, wo er als stellvertretender Klinikdirektor am Universitätsspital Zürich wirkte. Im Jahre 2009 gründete er das Neurozentrum der Italienischen Schweiz, welches er bis 2012 leitete. Claudio Bassetti hat zwei Research Fellowships in experimenteller Neurophysiologie (Basel, 1984-85) und Schlafmedizin (Ann Arbor, Michigan, USA, 1994-95) absolviert. Sein Hauptinteresse in der Forschung – wo er sowohl klinisch als auch tierexperimentell aktiv ist – gilt den Beziehungen zwischen Schlaf und Gehirn in physiologischen und pathologischen Zuständen.

Kontakt

Prof. Dr. med. Claudio L. Bassetti
Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern / Medizinische Fakultät, Universität Bern
claudio.bassetti@insel.ch

Fred Mast

Fred Mast ist ordentlicher Professor für Allgemeine Psychologie und Quantitative Methoden am Institut für Psychologie und Leiter der Abteilung Kognitive Psychologie, Wahrnehmung und Methodenlehre.

Fred Mast ist in der Ostschweiz aufgewachsen und studierte an der Universität Zürich Psychologie, Neurophysiologie und Philosophie. Nach fünf Jahren Assistenztätigkeit in der Biologisch-Mathematischen Abteilung des Psychologischen Instituts promovierte er an der Universität Zürich und übernahm danach bis 1998 eine Oberassistenz. Von 1998 und 2002 war er an der Harvard University (USA) im Departement für Psychologie und als assoziierter Forscher am Massachusetts Institute of Technology (USA) tätig. 2003 erfolgte die Habilitation für das Fach Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Fred Mast wurde im Jahr 2005 als Ordinarius für Kognitive Psychologie an die Universität Lausanne berufen und leitete am Collège des Humanités der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne den Fachbereich Kognitive Psychologie. Im Jahr 2008 erfolgte der Ruf an die Universität Bern. Er leitete das Institut für Psychologie und war von 2015 bis 2017 Dekan der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät. Die Forschung von Fred Mast ist in den Bereichen der Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie sowie den kognitiven Neurowissenschaften situiert.

Kontakt

Prof. Dr. Fred Mast
Universität Bern
Institut für Psychologie, Abteilung Kognitive Psychologie, Wahrnehmung und Methodenlehre
fred.mast@psy.unibe.ch 

Zum Autor

Timm Eugster arbeitet als Leiter UniPress in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.

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