«Forschung braucht Offenheit, Diskurs und Zufall»
Der Historiker Dr. Christophe von Werdt wird anlässlich des diesjährigen Dies academicus als Ehrensenator der Universität Bern gewürdigt. Als ehemaliger Leiter der Schweizerischen Osteuropabibliothek kennt von Werdt die Universität bestens, und als gut vernetzter Bernburger spürt er eine gewisse Verpflichtung, sich aktiv einzubringen.
Herr von Werdt, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von Ihrer Ernennung zum Ehrensenator der Universität Bern erfuhren?Ich war ehrlich gesagt etwas perplex und stellte mir die Frage, ob und wie ich das verdient habe. Denn was ich gemacht habe und was wohl zu dieser Ernennung geführt hat, habe ich ja in Ausübung einer Funktion getan. Jede Funktion bringt Aufgaben mit sich, die man so gut als möglich zu erfüllen versucht. Man tut dies ja nicht alleine, sondern immer im Zusammenspiel mit verschiedensten Menschen. Ich sehe es mehr als «Zufall», dass die Ehrung nun mir zugefallen ist. Aber ja, ich freue mich sehr über diese Anerkennung, verstehe sie aber auch als Verpflichtung. Ganz unabhängig von meiner Person: Eine solche Ernennung ist eine schöne Geste und Form von Anerkennung durch eine öffentliche Institution.
Wie nehmen Sie die Universität Bern heute wahr?Ich finde, die Universität bemüht sich sehr stark um eine gute Verankerung in der Gesellschaft und darum, wissenschaftliche Erkenntnisse der Bevölkerung näher zu bringen, so zum Beispiel mit dem Anlass «Bern im All» im letzten Jahr. Eine Universität spielt im Rahmen eines Standort- oder Stadtmarketings bestimmt eine grosse Rolle. Auf der anderen Seite finde ich es wichtig, dass eine Universität sich nicht für Dinge vereinnahmen lässt, wofür sie nicht zuständig ist. Sie ist in erster Linie ein Ort der Lehre und Forschung und sollte dies auch ohne zu grosse Zweckorientierung machen können.
In meinen Augen müssen der Austausch von Gedanken, die Freude am Ideen entwickeln, der Diskurs und die Diskussion im Zentrum stehen – und das Lernen, wie so etwas funktioniert. Das ist für mich primärer Teil des Bildungsauftrags einer Universität. Gut strukturierte Lehrgänge sind wichtig, aber eine zu starke Verschulung würde genau das verhindern und damit wäre niemandem gedient.
Wie wichtig diese Elemente sind, zeigt auch die jetzige Situation. Viele Professorinnen und Professoren sagen, dass sie die aktuelle Situation schwierig und frustrierend finden, weil im Fernunterricht von den Studierenden wenig zurückkommt. Es fehlen das Zusammensein und der direkte Austausch.
Ist die Freude am Diskurs und Austausch auch der Ausgangspunkt der neuen Veranstaltungsreihe «Zeitgedanken», die Sie initiiert und gemeinsam mit unserem Generalsekretär Christoph Pappa organisieren?Seitens der Burgergemeinde entstand die Idee, spannende Persönlichkeiten von internationalem Rang für eine breitere Öffentlichkeit nach Bern zu holen. Dafür ist die Universität natürlich genau die richtige Partnerin. Wir wollen Menschen nach Bern bringen, die sich zu aktuellen Zeitfragen äussern und die dazu mit einer hohen Glaubwürdigkeit etwas zu sagen haben. Es ist etwas Spezielles, eine Persönlichkeit wie Joachim Gauck, der unser erster Gast sein wird, in persona erleben zu können.
Sie haben in Zürich studiert und dann lange als Leiter der Osteuropabibliothek an der Universität Bern gearbeitet. War für Sie eine akademische Laufbahn keine Option?Es gibt im Leben Gelegenheiten und Zufälle, die man so nicht steuern kann. Ich war junger Assistent, als ich mich auf die Stelle in Bern bewarb. Etwas übermütig dachte ich, ich könne ja nichts verlieren, und dann bekam ich die Stelle tatsächlich. Das war einerseits eine wissenschaftsnahe Position, und ich nahm auch einige Lehraufträge wahr. Andererseits war ich nicht voll in die Akademie involviert, was mir grössere Freiheiten gab. Dass ich nach 15 Jahren die Universität verliess, war wieder so eine Gelegenheit. Ich bekam die Möglichkeit, nochmals einen ganz anderen Weg zu beschreiten und mitzuhelfen, ein Unternehmen aufzubauen. Die damit verbundene Freiheit und Eigenverantwortung hat mich sehr gereizt. Heute ist die archivsuisse AG ein KMU mit über 20 Angestellten.
Sammeln und Archivieren zieht sich wie ein roter Faden durch ihr berufliches Leben. Sind sie privat auch ein Sammler?Privat bin ich alles andere als ein Sammler, aber ich bin Historiker, und ich messe der Überlieferung und der Tradition eine hohe Bedeutung zu. Ich finde Institutionen, die einen Sammlungs- oder Bewahrungsauftrag haben, sehr wichtig. Überlieferung leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung eines Kerns unserer Gesellschaft. Sie gibt uns Verankerung und Halt, gerade in einer Zeit, in der sich viel verändert.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen, die auf die Universität warten?Ein Punkt ist sicher das Wachstum. Die Universität Bern wird immer grösser, und dieses Wachstum muss sie verkraften, von ihren Strukturen, ihren Ressourcen und von den Infrastrukturen her. Auf der anderen Seite sehe ich auch die Herausforderung, dass das Verständnis der Universität immer stärker unter Druck gerät: Forschung braucht Offenheit, sie braucht den Diskurs und sie benötigt bis zu einem gewissen Masse auch den Zufall. Ich bin überzeugt, dass selbst der sprichwörtliche «Elfenbeinturm», der sich mit ganz entlegenen Dingen befasst, seine Berechtigung hat. Man darf Wissenschaft, aber auch die Lehre nicht rein zweckgetrieben nur auf konkrete Ziele ausrichten. Weil man damit das Spielerische, Zufällige und die intensive Auseinandersetzung mit einer Materie verliert und preisgibt. Und dann denke ich, dass viele Professorinnen und Professoren von den steigenden Verwaltungsfunktionen überfordert werden und in diesem Bereich auch zu viel von ihnen erwartet wird. Menschen sollen das tun können, was sie am besten können. Brillante Forschende oder Lehrpersonen sind nicht unbedingt auch gute Manager oder Managerinnen und müssen dies auch nicht sein.
Sie sehen in Ihrer Ernennung auch eine Verpflichtung. In welchem Sinn?Ich sehe in meiner Ernennung vor allem ein Zeichen der Verbundenheit von Universität und Burgergemeinde. So wie ich persönlich veranlagt bin, hatte ich neben meinem Beruf immer viele andere Verpflichtungen – auch weil ich Freude daran habe, etwas zu bewegen. Ich hoffe, dass ich das auch in der einen oder andern Form für die Universität Bern tun kann. Ich interpretiere es für mich auch als eine gewisse Verpflichtung, etwas beizutragen.
Es ist schade, dass wir dieses Jahr den Dies academicus nicht in der gewohnten Form feiern können.Der Dies academicus ist ein schönes und wertvolles Ritual. Wohl an wenigen anderen Anlässen kommen in Bern so viele Menschen, die in ganz verschiedenen Gebieten eine gewisse Rolle spielen, zusammen, um ihrer Verbundenheit mit einer Institution Ausdruck zu verleihen. Damit stärkt man die Gemeinschaft. Wir Menschen können nur so leben, und wir müssen diese Gemeinschaft auch immer wieder bestätigen, weil sie sonst ihre Bedeutung verliert.
Zur Person
Dr. Christophe von Werdt ist promovierter Osteuropa-Historiker und hat als Leiter der Osteuropabibliothek während 15 Jahren an der Universität Bern gearbeitet. Er war Mitinitiator und Studiengangsleiter der interdisziplinären Osteuropa-Studien. Von 2004 bis 2015 hatte er Lehraufträge an den Universitäten Bern und Zürich inne. Als Präsident der Bibliothekskommission und Mitglied der Exekutive der Burgergemeinde Bern war er für die Schaffung des Zentrums Historische Bestände und für den Umbau der Räumlichkeiten an der Münstergasse, die die Zentralbibliothek der Universität Bern und die Burgerbibliothek beheimaten, zuständig. Er ist Mitinhaber und Geschäftsleiter der archivsuisse AG, welche Dienstleistungen im Bereich des Records Management, der Digitalisierung und der Archivierung anbietet.
Dies academicus
Mit dem Dies academicus feiert die Universität Bern jedes Jahr ihre Gründung im Jahre 1834. Die aktuelle Situation verunmöglicht es, die 186. Stiftungsfeier im üblichen Rahmen durchzuführen. Stattdessen veröffentlicht die Universität Bern am Samstag, 5. Dezember 2020 einen Film, in dem unter anderem die diesjährigen acht Ehrendoktorinnen und Ehrendoktoren sowie der neu ernannte Ehrensenator vorgestellt werden.
Zur Autorin
Nicola v. Greyerz arbeitet als Eventmanagerin in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.