Gut gegen Corona: Mut und Mitgefühl
Unsere Welt sei auf den Kopf gestellt, heisst es, seit COVID-19 Einzug gehalten hat. Früh wurde vor den Folgen für die psychische Gesundheit gewarnt. Die Psychologinnen Noemi Brog und Julia Hegy untersuchen, was gegen pandemiebedingte psychische Belastungen hilft – anhand ihres eigens entwickelten Selbsthilfeprogramms.
Frau Hegy, Frau Brog: Was meinen Sie: Was hat die Pandemie mit uns gemacht? In wessen Psyche richtet sie Schaden an und wer kommt unversehrt davon?
Julia Hegy: Die Pandemie hat eine massive Anpassungsleistung von uns erfordert: Wir waren und sind in allen Lebensbereichen mit umfassenden Veränderungen konfrontiert, mit denen wir umgehen und an die wir uns gewöhnen oder eben anpassen müssen. Hinzu kommt die Ungewissheit, wie es nun weitergeht. Das löst verständlicherweise Unsicherheit, Angst oder Stress aus. Im Prinzip durchleben wir als Gesellschaft gerade ein kritisches Lebensereignis. Das stellt uns vor grosse Herausforderungen, die wir so nicht kennen und die uns als Gesellschaft und Individuen neu definieren können.
Noemi Brog: Es sind jedoch nicht alle gleichermassen von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Das heisst, dass sich die zu vollbringende Anpassungsleistung unterscheiden kann. Menschen, die sich schnell in neue Situationen einfinden können, wird die Krise wahrscheinlich weniger anhaben. Hingegen können Personen, die bereits vor der Pandemie psychisch belastet waren, die aktuelle Situation als besonders herausfordernd erleben. Manche Personen könnten aber durch die Pandemie auch ein persönliches Wachstum erleben. Das kann sich darin zeigen, dass sie das Leben intensiver wertschätzen, soziale Beziehungen als stärker erleben oder neue Möglichkeiten im eigenen Leben entdecken, indem sie beispielsweise aus Gewohnheiten ausbrechen, neue Interessen und Aktivitäten kennenlernen oder sich lang gehegte Wünsche erfüllen.
Woran erkennen wir selbst oder die Menschen um uns herum, dass die eigene psychische Gesundheit unter der Krise leidet und professionelle Hilfe angebracht ist?
Brog: Wenn wir bei uns oder unseren Mitmenschen eine deutlich negative Veränderung des Gemütszustandes feststellen, die über zwei Wochen andauert. Fühlen wir uns beispielsweise vermehrt niedergeschlagen, hoffnungslos oder verlieren die Freude an unseren Tätigkeiten, ist das ein wichtiger Hinweis. Auch Schlaf- oder Konzentrationsprobleme, eine hohe Anspannung oder allgemeine Erschöpfung können Anzeichen einer psychischen Belastung sein. Sich bei solchen Symptomen frühzeitig Unterstützung zu holen, ist sinnvoll. Spätestens, wenn man das Gefühl hat, dass einem alles zu viel wird oder man den Alltag nicht mehr bewältigen kann, sollte man sich Hilfe holen.
Können diese psychischen Probleme auch von allein wieder verschwinden?
Hegy: Ja, das ist möglich. Die Belastungen des Lockdowns entfallen und der Weg führt langsam Richtung Normalität. Es kann sein, dass damit auch die psychische Belastung zurückgeht. Allerdings kann einen genau diese Erwartung auch unter Druck setzen. Nur weil wieder mehr Normalität einkehrt, heisst das nicht, dass sich unsere Belastungen und Probleme in Luft auflösen und alles wie vorher «funktioniert». Im Vergleich zu körperlichen Beschwerden fällt es uns oft schwerer, psychische Belastungen zu erkennen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist aber auch bei psychischen Belastungen wichtig, frühzeitig anzusetzen und so einer chronischen Belastung vorzubeugen.
Was hindert einen Menschen daran, sich diese Hilfe zu suchen?
Hegy: Sich psychologische Hilfe zu holen, ist auch heute noch mit einer gewissen Stigmatisierung verbunden. Hinzu kommt, dass das Social-Distancing-Gebot den Kontakt vor Ort erschwert, insbesondere für Personen in Risikogruppen. Darum sind momentan Online-Angebote wie internetbasierte Selbsthilfeprogramme und Apps besonders wichtig und auch gefragt. Diese bieten neben der örtlichen Flexibilität weitere Vorteile wie zeitliche Unabhängigkeit. Dadurch können Hilfesuchende schnell und ohne Wartezeiten erreicht werden. Zudem sind solche Programme oft kostengünstig und können niederschwellig, also mit verhältnismässig wenig Aufwand genutzt werden.
Brog: Diese Vorteile wollten wir nutzen und haben ROCO, ein Online-Selbsthilfeprogramm für psychische Belastungen rund um die COVID-19 Krise entwickelt (siehe Kasten). Dieses kann man momentan im Rahmen einer Studie nutzen. Wie bei jedem anderen Behandlungsangebot ist es nämlich auch bei internetbasierten Programmen wichtig, deren Wirksamkeit zu untersuchen. Prinzipiell sollte man bei internetbasierten Programmen darauf achten, dass sie von Fachpersonen entwickelt wurden und seriös sind.
Sie haben die Vorteile der Online-Therapie gegenüber dem klassischen Face-to-Face-Setting, in dem sich Therapeutin und Klient gegenübersitzen, damit deutlich werden lassen. Was aber sind die Nachteile?
Hegy: Ein möglicher Nachteil ist, dass durch den fehlenden persönlichen Kontakt und die grössere Flexibilität die Verbindlichkeit verloren geht. Dies verlangt viel Selbstdisziplin von den Teilnehmenden. Aus diesem Grund ersetzen internetbasierte Programme die Therapeutin oder den Therapeuten nicht. Studien haben gezeigt, dass die beste Wirkung erzeugt wird, wenn man das Face-to-Face Setting mit Online-Angeboten kombiniert. Das nennt sich Blended Treatment. Um dies zu ermöglichen, ist beispielsweise das ROCO-Programm sowohl als eigenständige Behandlung wie auch als Zusatz zu einem anderen Angebot nutzbar. Grundsätzlich nicht geeignet sind internetbasierte Programme bei akuten Krisen oder Suizidalität, da nur eingeschränkt, zeitlich verzögert oder sogar gar nicht reagiert werden kann.
In Ihrem Online-Programm lassen Sie die Programmteilnehmenden sich einen «wohlwollenden Begleiter» an die Seite stellen. Worum handelt es sich dabei und wofür ist der gut?
Brog: Dabei handelt es sich um einen fiktiven Begleiter, der einem unterstützend zur Seite steht. Dies kann ein Mensch, ein Tier oder auch ein Fabelwesen sein. Wichtig ist, dass man eine persönliche Verbindung hat. Der Begleiter kann einem Kraft und Mut, aber auch Zuwendung und Mitgefühl schenken. Dies ist insofern wichtig, als viele Menschen sich selbst gegenüber eher kritisch sind. Der wohlwollende Begleiter hilft dabei, den Fokus auch auf eigene Stärken und Ressourcen zu richten. Bei der Entwicklung des Programms war es uns ein besonderes Anliegen, neben klassischen Elementen der Kognitiven Verhaltenstherapie wie zum Beispiel der Bearbeitung von eigenen Denkmustern auch andere Elemente in das Programm einzubeziehen. Dazu gehören eben gerade Interventionen wie der «wohlwollende Begleiter», bei dem die Ressourcenaktivierung im Vordergrund steht. Das Programm hat ja auch das Ziel, die innere Abwehrkraft gegenüber Stress und Krisen zu fördern. Dazu gehört es, eigene Stärken kennenzulernen, Positives erkennen zu können und mit sich selber achtsam umzugehen. Das Kürzel ROCO steht dementsprechend auch für Resilienz und Optimismus während der COVID-19 Pandemie.
Ihr Programm läuft seit diesem Mai: Wie stark wird es nachgefragt und von welchen Personengruppen am meisten?
Brog: Entgegen unserer Vermutung, dass die Nachfrage mit den Lockerungen der Massnahmen abnimmt, haben wir bisher keinen Einbruch der Nachfrage erlebt. Es melden sich täglich Interessierte. Im Fokus stehen insbesondere depressive Symptome, aber auch Stress und Ängste.
Hegy: Dabei ist die Spannbreite der interessierten Personen sehr gross. An der Studie nehmen Personen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum teil, zum Beispiel auch aus dem Südtirol und vermehrt auch aus Deutschland. Die Teilnehmenden sind im Alter von 18 bis über 80 Jahren, Frauen und Männer. Das zeigt erneut, dass die COVID-19 Pandemie uns alle betrifft.
ROCO: Ein Online-Selbsthilfeprogramm
ROCO steht für Resilienz und Optimismus während COVID-19 und richtet sich an Menschen, die sich durch die Pandemie als psychisch belastet erleben. Das dreiwöchige Selbsthilfeprogramm umfasst sechs wissenschaftlich fundierte Module und hat eine Medizinprodukte-Zertifizierung der EU. Entwickelt haben es die beiden Doktorandinnen Noemi Brog und Julia Hegy. Prof. Dr. Hansjörg Znoj und Prof. Dr. Thomas Berger vom Institut für Psychologie der Universität Bern betreuen das Forschungsprojekt. Um die Wirksamkeit des Online-Angebots zu prüfen, wird es im Rahmen einer Studie untersucht. Die Teilnahme wird noch bis mindestens April 2021 möglich sein (Mindestalter 18 Jahre).
ZUR AUTORIN
Nina Jacobshagen arbeitet als Redaktorin Corporate Publishing in der Abteilung Kommunikation und Marketing der Universität Bern.