Schweizerdeutsche Dialekte: Feldforschung trotz Pandemie

Das Projekt «Swiss German Dialects Across Time and Space – der neue schweizerdeutsche Sprachatlas» (SDATS) untersucht, wie sich die Deutschschweizer Dialektlandschaft in den letzten 70 Jahren verändert hat. Weil die Pandemie Feldforschung verunmöglichte, entwickelten die Forschenden kurzerhand eine coronakonforme Lösung.

Von Carina Steiner 21. Oktober 2020

Das SDATS-Team (v.l.n.r.): Carina Steiner (Doktorandin), Melanie Studerus (studentische Hilfskraft), Prof. Dr. Adrian Leemann (Projektleiter), Péter Jeszenszky (Postdoc) und Jan Messerli (studentische Hilfskraft). © SDATS-Projekt
Das SDATS-Team (v.l.n.r.): Carina Steiner (Doktorandin), Melanie Studerus (studentische Hilfskraft), Prof. Dr. Adrian Leemann (Projektleiter), Péter Jeszenszky (Postdoc) und Jan Messerli (studentische Hilfskraft). © SDATS-Projekt

Sprachen und Dialekte verändern sich. Immer wieder heisst es, dass heute nicht mehr gesprochen werde wie noch vor ein paar Jahrzehnten. Ist das wirklich der Fall? Und wenn ja, welche sprachlichen Ebenen verändern sich am schnellsten? Ist es die Verwendung von Wörtern, die Grammatik oder etwa die Lautung und Melodie? Diesen Fragen geht das Projekt SDATS unter der Leitung von Adrian Leemann an der Universität Bern nach. Im grössten Dialektprojekt seit den 1950er Jahren werden Sprachdaten von rund 1’000 Personen aus 125 Ortschaften in der ganzen deutschsprachigen Schweiz erhoben.

Die Resultate werden zeigen, wie sich unsere Dialektvielfalt entwickelt hat und ob sich beispielsweise Tendenzen einer Abflachung von regionalen Unterschieden ausmachen lassen. Zudem sollen auch die Gründe für Veränderungen nachvollzogen werden: Inwiefern hat beispielsweise das Standarddeutsche einen Einfluss? Oder: Treiben eher Männer oder Frauen den Sprachwandel voran?

Von Dialektbefragungen vor Ort hin zu virtuellen Befragungen

Im Rahmen der im Februar 2020 gestarteten Datenerhebungen reisten die Mitglieder unseres Forschungsteams an verschiedene Deutschschweizer Orte, um die Teilnehmenden zu interviewen. Als der Bund im März wegen steigender Infektionsraten die ausserordentliche Lage erklärte, mussten wir die Erhebungen jedoch abrupt abbrechen.

Uns stellte sich die Frage, wie wir unser Forschungsprojekt, das derart auf den direkten Kontakt mit den Befragten angewiesen ist, in Zeiten einer Pandemie fortsetzen können. Nach sorgfältigem Abwägen verschiedener Möglichkeiten kamen wir schliesslich auf eine Idee, die an modernste Technologie anknüpft, die die meisten Menschen in der Schweiz täglich mit sich herumtragen: ihr Smartphone.

Zusammen mit einer externen Firma entwickelten wir auf schnellstem Weg eine App, mit der die Projektteilnehmenden Sprachaufzeichnungen machen können. Auf einer selbsterklärenden Oberfläche können sie sich durch die Fragen klicken und ihre gesprochenen Antworten aufnehmen, während wir sie per Videokonferenz begleiten. Die Sprachaufnahmen werden direkt verschlüsselt übermittelt und ihre Qualität im Hintergrund überprüft.

Befragung vor Ort mit Laptop (links) und via Smartphone-App (rechts). © SDATS-Projekt
Befragung vor Ort mit Laptop (links) und via Smartphone-App (rechts). © SDATS-Projekt

Die neue Methode überwindet Distanzen, schafft aber auch neue Herausforderungen

Die neue Befragungsmethode verbindet modernste Technologie mit traditioneller Feldforschung. Inhaltlich bleibt die Interviewstruktur gleich, aber dank Internet und Smartphones entfällt die Anreise und es wird möglich, am gleichen Tag eine Bündnerin, einen Walliser und eine Thurgauerin zu befragen.

Wir machten uns aber auch über mögliche Nachteile der neuen Untersuchungssituation Gedanken. Lässt sich beispielsweise mit virtueller Kommunikation ein ausreichender Kontakt herstellen, sodass keine wichtigen Informationen verloren gehen? Fühlen sich die Teilnehmenden durch die Videoübertragung beobachtet oder gar gestresst? Um dies herauszufinden, führten wir eine Befragung mit zwei Gruppen durch, die entweder persönlich vor Ort oder virtuell per Smartphone-App teilgenommen hatten. Die Teilnehmenden beider Gruppen wurden gebeten, die Erhebungssituation bezüglich Natürlichkeit, Formalitätsgrad, Stresslevel und hinsichtlich der Verständlichkeit der Aufgabenstellungen einzuschätzen.

Virtuelle Erhebung: Die Testleiterin sieht die abzufragenden Variablen (links) und die übermittelten Audiodateien (rechts unten), während sie die Befragung via Zoom durchführt und die Teilnehmerin sich per Smartphone-App aufnimmt (rechts oben). © SDATS-Projekt
Virtuelle Erhebung: Die Testleiterin sieht die abzufragenden Variablen (links) und die übermittelten Audiodateien (rechts unten), während sie die Befragung via Zoom durchführt und die Teilnehmerin sich per Smartphone-App aufnimmt (rechts oben). © SDATS-Projekt

Erstaunlicherweise konnten wir kaum Unterschiede feststellen: die Einschätzungen der Untersuchungssituation stimmten zwischen beiden Gruppen stark überein. Es zeigte sich sogar, dass vor allem Jüngere das virtuelle Format häufig bevorzugten. Diese Ergebnisse bestärkten uns in der Annahme, dass auch virtuelle sprachliche Befragungen erfolgreich durchgeführt werden können. Im soeben publizierten Artikel in Linguistics Vanguard werden die Methode und die Ergebnisse detaillierter aufgezeigt und diskutiert .

Traditionelle und moderne Forschungsmethoden sinnvoll kombinieren

In der gegenwärtig noch unsicheren Zeit wird das SDATS-Team weiterhin nur virtuelle Befragungen durchführen. Sobald sich die Lage aber längerfristig beruhigt, werden wir auch wieder Erhebungen vor Ort planen. Denn wir wollen keine Personen ausschliessen, denen die notwendige technische Ausrüstung, das Know-how oder schlicht die Bereitschaft für eine virtuelle Teilnahme fehlen.

In diesem Sinn soll die virtuelle Methode die traditionelle Feldforschung nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen. Gleichzeitig hoffen wir, mit der neuen Methode und der Open-Source-App einen Beitrag für weitere Forschungsgruppen zu leisten, die in der aktuellen Situation auf digitale Lösungen für Datenerhebungen angewiesen sind.

 

Center for the Study of Language and Society (CSLS)

Das CSLS konzentriert sich auf die wissenschaftliche Erforschung des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft und ihrer wechselseitigen Beeinflussung im weitesten Sinn. Dabei geht es von einer Sprachauffassung aus, die Sprache grundsätzlich als fait social sieht: Sprache wird von Menschen in Interaktionen mit anderen Menschen erworben, konstruiert und konstituiert, so wie auch umgekehrt die Gesellschaft nicht einfach vorgegeben ist, sondern durch die Interaktion von Individuen und Gruppen erst geschaffen wird. 

SDATS-Projekt

Das SDATS-Projekt untersucht, wie sich schweizerdeutsche Dialekte seit den 1950ern verändert haben und ob sich beispielsweise Tendenzen einer Abflachung regionaler Unterschiede ausmachen lassen. Für dieses Dialektprojekt sucht das Forschungsteam an der Universität Bern Teilnehmende in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Befragung dauert etwa drei Stunden und wird mit 100 CHF vergütet. Die Teilnahmekriterien sind hier aufgeführt.

Zur Autorin

Carina Steiner hat an der PHBern und der Universität Freiburg studiert und einen Master in Mehrsprachigkeitsforschung erworben. Seit September 2019 arbeitet sie als Doktorandin im Projekt Swiss German Dialects Across Time and Space (SDATS).

Kontakt:

Carina Steiner
Universität Bern, CSLS
E-Mail: carina.steiner@csls.unibe.ch

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