«Wir haben keine Angst vor tausend Experimenten»
Der Zellbiologe Olivier Pertz hat in den vergangenen vier Jahren in Bern ein sehr erfolgreiches, interdisziplinäres Team aufgebaut, das Signalnetzwerke in Zellpopulationen untersucht. Im Interview spricht er über die Schwarmintelligenz von Zellen, «gepimpte» Mikroskope und warum sein Team keine Angst vor Big Data hat.
«uniaktuell»: Herr Pertz, worum geht es in Ihrer Forschung?
Grob gesagt beschäftigen wir uns mit der Frage, wie eine Zelle weiss, was sie tun muss. Zellen erhalten dauernd Informationen von aussen. Diese Informationen können Hormone sein, die auf die Rezeptoren der Zellen treffen, oder Stresssignale, die zum Beispiel von toxischen UV-Strahlen kommen. Diese Information wird durch ein so genanntes Signalisierungsnetzwerk von den Zellen interpretiert, um zu entscheiden, ob die Zellen weiter wachsen, sich bewegen, sich in einen speziellen Zelltyp differenzieren, sich teilen oder sterben sollen.
Normalerweise werden solche biochemischen Prozesse statisch untersucht. Man setzt eine Million Zellen in einer Petrischale einem Ereignis aus und misst den Zustand des Signalisierungsnetzwerks vor und nach diesem Ereignis. Dafür muss man die Zellen abtöten. Leben ist aber Dynamik! Mich interessiert der Prozess, der zwischen diesen beiden Zuständen abläuft und mich interessiert dabei die Reaktion auf der Ebene der einzelnen Zelle. Dafür braucht es eine andere Herangehensweise.
Und wie unterscheidet sich diese Herangehensweise?
Wir benutzen so genannte Biosensoren, die es möglich machen, die Signalisierungsnetzwerke in den einzelnen lebendigen Zellen zu beobachten. Eine andere Technologie, die wir benutzen, ist die Optogenetik. Diese macht es möglich, Zellen mit Licht zu aktivieren. So können wir einzelne Zelle in einer Population manipulieren. Um diese Prozesse zu beobachten, haben wir unsere Mikroskope über die Jahre aus- und umgebaut. Wir haben sie mit empfindlichen Kameras und optische Komponenten regelrecht «gepimpt», so dass die Messungen vollautomatisch ablaufen. Wir aktivieren eine grosse Versuchsreihe von Zellen im Minutentakt und schauen, was mit ihnen passiert. In der klassischen Biochemie misst man 10-20 Punkte in zwei Tagen. Wir messen 10`000 pro Tag. Wir produzieren also in kurzer Zeit Unmengen an Daten, die ein Mensch nicht mehr selber analysieren kann. Wir haben deswegen lernen müssen, keine Angst mehr vor «Big Data» zu haben.
Alle meine Doktorandinnen und Postdocs arbeiten deswegen nicht nur im Labor, sie können alle auch Computer Skripte schreiben. Und ich habe zwei Personen, die die komplizierteren Algorithmen programmieren und Bildanalysen machen können. Zudem arbeiten wir auch mit Forschenden wie Raphael Sznitman vom ARTORG Center for Biomedical Engineering zusammen, der sich mit Machine Learning und Künstlicher Intelligenz auskennt. Das alles ist für ein zellbiologisches Labor recht aussergewöhnlich. Aber für unsere dynamische Sichtweise ist das unabdingbar.
Was sind die Erkenntnisse dieser dynamischen Sichtweise?
Wir haben herausgefunden, dass zellulare Prozesse auf der Ebene von Minuten ablaufen und nicht auf der Ebene von Stunden, wie öfters angenommen. Und wir haben herausgefunden, dass sich die einzelnen Zellen innerhalb einer Population viel unterschiedlicher verhalten als bisher angenommen. Wenn man die Reaktion einer Population von einer Million Zellen im Durschnitt anschaut, dann bekommt man eine, homogene, Antwort. Wenn man aber die Reaktion jeder einzelnen Zelle getrennt anschaut, dann erhalten sie ein sehr heterogenes Bild. Wir verstehen heute sehr viel genauer, warum das so ist und wie es dazu kommt.
Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Hautzellen funktionieren zusammen wie eine Barriere. Damit sie diese Funktion aufrechterhalten können, braucht es immer die richtige Anzahl an lebenden Zellen bzw. die richtige Dichte. Wir haben herausgefunden, dass Hautzellen untereinander kommunizieren, um dies sicherzustellen. Wenn zum Beispiel durch starkes UV-Licht Zellen abgetötet werden, dann senden diese ein Survivor-Signal an die umliegenden Zellen aus: «Ich sterbe, ihr dürft in den kommenden Stunden nicht sterben, sonst gibt es ein Loch und wir haben ein Problem». Diese Signalisierung spielt sich in Wellen ab, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Dieser einfache Prozess macht es möglich, dass eine Zellpopulation immer genau weiss, wann und wo wie viele Zellen sich vermehren müssen, um die Barrierefunktion der Haut aufrecht erhalten zu können.
Kann man also sagen, dass Zellen eine Art Schwarmintelligenz an den Tag legen?
Ja, die dynamischen und räumlichen Prozesse, die wir bei Zellpopulationen sehen, sind sehr ähnlich zu denen von Fisch- oder Vogelschwärmen. Dies deutet darauf hin, dass in der Natur Regeln verwendet werden, die über mehrere Skalen hinweg eine Gültigkeit haben. Ich denke es wäre spannend, wenn Zellbiologinnen stärker mit Ökologen reden würden. Diese wissen schon sehr viel genauer, wie Populationsdynamiken funktionieren. Das gilt auch für Physikerinnen und Physiker, die weiche Materie studieren, wo solche Populationseffekte auch wichtig sind. Dieselben Gesetzmässigkeiten konnten wir übrigens auch bei den Zytoskeletten einziger Zellen nachweisen, wenn diese mechanischen Kräfte erzeugen, um sich zu bewegen. Zusammenfassend bedeutet dies: Wenn wir einen biologischen Prozess mit geeigneten Zeit- und Raumskalen untersuchen, können wir diesen plötzlich mit sehr einfachen Regeln beschreiben und erklären.
Gibt es Anwendungsmöglichkeiten ihrer Grundlagenforschung?
Da unsere Technologie die Messungen von Signalnetzwerken miniaturisiert und automatisiert hat, können wir mit sehr kleinen Zellmengen arbeiten, was in Zukunft Messungen in Patientenbiopsien ermöglicht. Wir arbeiten zum Beispiel daran, die Signalnetzwerke in Brustkrebs-Organoiden – in kultivierten organähnlichen Mikrostrukturen, die im Labor gezüchtet werden – mit relativ hohem Durchsatz zu messen und deren Funktionsweise zu verstehen. Das könnte es möglich machen, neue Therapien für Brustkrebs zu entwickeln. Denn ein grosses Problem der Krebsbekämpfung ist immer noch, dass auch mit einer starken Chemotherapie unter Umständen nur 99 Prozent der Krebszellen vernichtet werden und ein Prozent diese Rosskur überlebt. Da wir mit unserem Verfahren die Aktivität jeder einzelnen Zelle messen können, verstehen wir, was in diesem ein Prozent Zellen vor sich geht und man kann die Therapie so weiterentwickeln, dass auch noch dieses eine Prozent abtötet wird.
Eine weitere wichtige Frage betrifft die Differenzierung von Stammzellen zu einem gewünschten Zelltypen. Obwohl wir verstehen, wie Stammzellen in bestimmte Zelltypen (Herz, Muskel oder Gehirn) differenziert werden können, treten immer wieder Hetoregenitäten auf. Mit unseren Aktivitätsmessungen einzelner Zellen können wir erklären, warum diese auftreten und wir können die Differenzierungen genauer steuern. Mit unseren Verfahren könnte daraus das langfristige Projekt entstehen, mithilfe der Optogenetik, Organentwicklungen mit Lichtimpulsen sehr subtil zu kontrollieren oder Gewebe zu produzieren, das direkt im Patienten verwendet werden könnte. Aber das ist noch Zukunftsmusik
Über Olivier Pertz
Olivier Pertz (1971) hat an der Universität Lausanne Biologie studiert. Ab 2000 arbeitete Pertz zuerst als Postdoc am Scripps Institute und dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of California San Diego. 2008 kam er im Rahmen einer SNF-Förderungsprofessur ans Departement Biomedizin der Universität Basel und ist seit 2016 aussenordentlicher Professor für Zellbiologie an der Universität Bern. Er ist zudem Direktor des Instituts für Zellbiologie. Er ist Gewinner von zwei Sinergia Grants und zwei Human Frontiers Program Grants.
Kontakt:
Prof. Dr. Olivier Pertz
Institut für Zellbiologie, Universität Bern
E-Mail: olivier.pertz@izb.unibe.ch
Institut für Zellbiologie
Das Institut für Zellbiologie der Universität Bern umfasst diverse Forschungsgruppen die sich mit einem breiten Spektrum an Organismen, experimentellen Techniken und aktuellen Themen befassen. Besondere Schwerpunkte liegen aber in der Molekulare Parasitologie, Entwicklungsbiologie, Genomik und System Biologie.
ZUR AUTORIN
Nicola von Greyerz arbeitet als Eventmanagerin in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.