«Man darf die Symbolkraft einzelner Ereignisse nicht unterschätzen»
Fabienne Amlinger ist eine fundierte Kennerin der Schweizer Frauengeschichte. Sie ist Mitautorin eines Buches zum 50. Jahrestag des Frauenstimmrechts und hat eine Ausstellung zum selben Thema kuratiert. Ein Interview anlässlich des 14. Juni, dem Tag der landesweiten Frauenstreiks 1991 und 2019.
Fabienne Amlinger, was ist die Idee hinter dem Buch «Jeder Frau ihre Stimme – 50 Jahre Frauengeschichte»?Dieses Jahr sind ja einige Publikationen zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in der Schweiz erschienen. Der Hier und Jetzt Verlag trat an verschiedene Historikerinnen unterschiedlichen Alters heran, mit der Idee, das Geschehen in der Schweiz seither für je ein Jahrzehnt zu untersuchen. Die Herangehensweise, jeder Autorin eine Dekade zu geben, hat mich erst etwas befremdet. Beim Schreiben meines Kapitels zu den 90er Jahren und bei der Diskussion mit den anderen Autorinnen, stellte ich dann jedoch fest, dass diese Aufteilung in zeitliche Klammern durchaus passend ist. Zwischen den einzelnen Kapiteln stehen Porträts von unterschiedlichen Frauen, die die Vielseitigkeit von Feminismus und Frauen-Geschichten darstellen sollen. Ganz nach dem Titel des Buches «Jeder Frau ihre Stimme». Die 90er Jahre sind ein Jahrzehnt, in dem die Frauenbewegung eher ins Stocken geriet. Stimmt diese Beobachtung?
Diese Wahrnehmung einer abflauenden Frauenbewegung ist im kollektiven Gedächtnis ziemlich präsent. Dabei hat dieses Jahrzehnt 1991 mit dem Frauenstreik laut und bunt begonnen. Zwei Jahre später standen Zehntausende aus Protest gegen die Nichtwahl der Bundesratskandidatin Christiane Brunner auf der Strasse. Dennoch wird oft vergessen, dass die 90er Jahre die Blütezeit der breiten Mobilisierung in der Frauenbewegung waren. Ab Mitte des Jahrzehnts wurde es auf der Strasse zwar ruhiger, Feministinnen traten aber verstärkt den Marsch durch die Institutionen an. Dies widerspiegelt sich unter anderem in der Einrichtung von Gleichstellungsbüros oder in der parlamentarischen Diskussion vieler Gesetzesvorlagen mit sogenannten Frauenanliegen.
Für Ihr Kapitel haben Sie die Bankerin Antoinette Hunziker-Ebneter porträtiert. Wie passt sie in diese Entwicklung?Als erste Frau an der Spitze der Schweizer Börse ist sie ein gutes Beispiel einer Frau, die innerhalb der Strukturen gearbeitet und ihre Akzente gesetzt hat. Ihr Einsatz für ökologische, soziale und kulturelle Anliegen innerhalb der Finanzwelt hat meine Neugierde geweckt.
Ist die Wahrnehmung richtig, dass die Mobilisierung in den letzten Jahren wieder stark zugenommen hat?Ich denke, dass das, was 2019 im grossen Frauenstreik und einem stark gesteigerten Frauenanteil bei den nationalen Wahlen im Herbst mündete, schon früher angefangen hat. Beispielsweise machten bereits 2013 Frauen ihre Erlebnisse mit alltäglichem Sexismus durch die Aufschrei-Bewegung in den Sozialen Medien und in der breiten Öffentlichkeit publik. Spannend ist, dass Themen, die seit Jahrzehnten virulent sind, plötzlich eine neue Dringlichkeit erhalten und eine unglaubliche Dynamik bekommen haben. Man darf die Symbolkraft von Einzelereignissen wie einem Streik oder einem Hashtag nicht unterschätzen.
Im Bernischen Historischen Museum läuft derzeit eine Ausstellung zu 50 Jahre Frauenstimmrecht, die Sie kuratiert haben. Wie kam es dazu?Im Rahmen meiner Dissertation zu den Frauenorganisationen der grossen Parteien habe ich Interviews mit Bundespolitikerinnen geführt. Das waren beeindruckende und oft auch sehr bewegende Gespräche. Ich wollte die Geschichten dieser Politikerinnen einem breiten Publikum zugänglich machen. So entstand die Idee, Politikerinnen im Rahmen einer Ausstellung «ihre Stimme zu geben».
Sie sind nicht nur Ausstellungskuratorin, sondern auch dramaturgische Mitarbeiterin von Anneli Binder, der künstlerischen Leiterin der Dampfzentrale. Was reizt Sie an dieser Arbeit?Anneli Binder und ich teilen die Überzeugung, dass Kunst und Wissenschaft viel stärker zusammengedacht werden sollten. Interessanterweise hat die erste Zusammenarbeit damit begonnen, dass ich ihr von einem Seminarthema erzählte, das ich an der Uni anbieten wollte: Verbotene Liebe. Sie fand das so überzeugend, dass sie es als Thema des internationalen Tanzfestivals wählte. Und so haben wir uns in die Forschungsliteratur eingelesen, ein Konzept verfasst und schliesslich daraus ein Festival programmiert. Dass aus diesem ursprünglich wissenschaftlich betrachteten Thema ein mehrwöchiges Tanzfestival mit Begleitveranstaltungen, Vorträgen und Diskussionsrunden entstand, ist grossartig. Das gibt mir einen kreativen Schub, der wiederum meine wissenschaftliche Arbeit anregt.
Zur Person
Dr. Fabienne Amlinger ist Historikerin und Geschlechterforscherin. Sie hat an den Universitäten Bern und Basel Geschichte, Sozialanthropologie und Soziologie studiert und arbeitet seit 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung. 2017 erschien ihre Doktorarbeit unter dem Titel «Im Vorzimmer der Macht? Die Frauenorganisationen der SPS, FDP und CVP (1971–1995)». Auf Grundlage dieser Forschung kuratierte Fabienne Amlinger die Ausstellung «Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht», die derzeit im Bernischen Historischen Museum zu sehen ist. Amlinger ist zudem dramaturgische Mitarbeiterin in der Dampfzentrale Bern und unterstützt die Kuratorin des internationalen Festivals «Tanz in Bern» konzeptuell.
Zum Buch
Denise Schmid (Hg): Jeder Frau Ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971-2021. 2020, 328 Seiten, 50 Abbildungen, gebunden, erschienen bei Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Zürich.
Zur Ausstellung
Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht. Eine Ausstellung des Bernischen Historischen Museums, der Universität Bern und des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern, kuratiert von Fabienne Amlinger. Noch bis zum 14. November 2021
Zur Autorin
Nicola von Greyerz arbeitet als Eventmanagerin in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern.