«Neuronen haben die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen»
Mihai A. Petrovici erforscht am Institut für Physiologie die erstaunlich effizienten Lernmechanismen des Gehirns. Im Interview spricht er über die Faszination und die Fortschritte der modernen Hirnforschung, aber auch über die Folgen, die das Ausscheiden der Schweiz aus den europäischen Forschungsprogrammen hat.
Mihai Petrovici, Sie haben mit einem Paper, das Sie an der wichtigsten Konferenz für Künstliche Intelligenz, der NeurIPS, vorstellen, einen Durchbruch erzielt. Was haben Sie erreicht?Im Gehirn haben wir es mit extrem schnellen Abfolgen von Sinnesreizen zu tun. Wir haben ein neues theoretisches Modell entwickelt, das zeigt, wie Teile des Gehirns – etwa der visuelle Cortex – solche Sinnesreize verarbeiten und so lernen. Das Modell besagt im Wesentlichen, dass Neuronen, also Nervenzellen, bei der Übertragung ihrer Signale die Fähigkeit haben, ein bisschen in die Zukunft zu schauen. So kann dieser Prozess im Gehirn blitzschnell und energieeffizient ablaufen.
Ist das von Ihnen entwickelte Modell realistisch?Wir haben diese Gleichungen in Computersimulationen eines kleinen, vereinfachten Modells des visuellen Cortex laufen lassen. Dabei konnten wir zeigen, dass unsere Theorie diesem Netzwerk erlaubt, schnelle Abfolgen komplexer Bilder zu erkennen, zum Beispiel von handgeschriebenen Ziffern, von Gegenständen oder von Tieren. Dies war bisher in biologisch inspirierten künstlichen neuronalen Netzwerken nicht möglich, eben weil alle Modelle bisher lange gebraucht haben, um Signale durch das Netzwerk zu propagieren. Ob das Gehirn ebenfalls nach diesen Regeln funktioniert, werden erst In-vivo-Experimente endgültig beantworten. Deswegen sind wir gerade dabei, eine Kollaboration mit Forschungsteams aus der Neurobiologie zu planen, im Rahmen welcher die von uns vorhergesagten Mechanismen im Gehirn erforscht werden sollen.
Wie gehen Sie nun weiter?Bisher haben wir das Konzept nur in konventionellen Computern getestet. In einem nächsten Schritt möchten wir es in neuromorphen Chips anwenden.
Was sind neuromorphe Chips?Es sind Computerchips, die effektiv Neuronen enthalten, die über Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, miteinander kommunizieren. Wir arbeiten mit Chips der neusten Generation aus Heidelberg, welche tausendmal schneller als das Gehirn sind und dabei einen Bruchteil der Energie herkömmlicher Computerchips verbrauchen. Allerdings sollte ich darauf hinweisen, dass bis zur vollständigen «Kopie» eines menschlichen Gehirns noch ein weiter Weg vor uns liegt, denn diese neuromorphen Chips sind mit ihren 512 Neuronen noch relativ klein.
Sind hier lebendige menschliche Neuronen eingebaut?Es sind keine biologischen Nervenzellen, sondern elektronische. Sie bestehen aus Transistoren, aber die Ströme, die dort fliessen, entsprechen den Strömen und Signalen, die durch unsere Nervenzellen fliessen. Die Abläufe im Gehirn werden darin also, anders als auf herkömmlichen Computerchips, nicht einfach simuliert. Wir sprechen von «Emulation» – wir kopieren die Physik des Gehirns in die Physik des Chips. Das ist es, was ihre Energieeffizienz und Geschwindigkeit ermöglicht. Gewissermassen kann man sagen, dass diese Chips, so wie das Gehirn, ihre zugrundeliegenden Algorithmen nicht berechnen, sondern effektiv «leben».
Gibt es denn auch konkrete Anwendungen, die aus Ihrer Forschung entstehen könnten?Da die Chips sehr energieeffizient und schnell sind, sind viele Anwendungen möglich. Zum Beispiel könnte man daraus im medizinischen Bereich sogenannte Biomonitoren entwickeln. Das wären tragbare Analyse-Tools, welche zum Beispiel, einzig von der Körperwärme angetrieben, den Herzrhythmus oder den Schlaf kontinuierlich analysieren. Ausserdem sind diese Chips aufgrund ihrer Architektur vergleichsweise robust und könnten daher in anspruchsvollen Umgebungen, wie etwa in Satelliten, Anwendung finden. Aber auch im Bereich der Biologie hat unsere Forschung einen Beitrag. In weiterer Zukunft könnten Erkenntnisse über die Lernprozesse im Gehirn auch zu einem besseren Verständnis von Krankheiten des Gehirns beitragen, wie zum Beispiel Alzheimer, Parkinson oder auch Autismus.
Sie forschen im Rahmen des EU-Flaggschiffs «The Human Brain Project» und sind vor fünf Jahren von der Universität Heidelberg an die Universität Bern gewechselt. Wieso sind Sie nicht nach Lausanne gezogen, wo dieses Hirnforschungsprojekt initiiert wurde?Viele wissen möglicherweise nicht, dass Bern bei dieser Forschung ganz vorne mitspielt. Wir sind ein tolles Team, und ich kann hier die wissenschaftlichen Themen bearbeiten, die ich schon immer wollte. Bern ist aber auch ideal gelegen. Wir haben Kollaborationen mit der Universität Zürich und der ETH Lausanne, und ein Teil meiner Gruppe ist noch in Heidelberg. Da sind kurze Wege von Vorteil. Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass Bern eine schöne Stadt ist, ich lebe wirklich gerne hier.
Die Schweiz ist seit Kurzem nicht mehr assoziiertes Mitglied der europäischen Forschungsprogramme. Ist das ein Nachteil für Ihre Forschung im Rahmen des Human Brain-Projektes?Das ist eine sehr heikle, weil politische Frage. Für die bestehenden Projekte, wie etwa unsere Kollaborationen im Rahmen des Human-Brain-Projektes, hat dies noch keine Auswirkungen, weil sie bis 2023 normal weiterlaufen. Aber wenn wir darüber hinaus neue Projekte in die Wege leiten wollen – und das wollen wir mit unseren vielen Ideen definitiv – stossen wir an Grenzen. Die Schweiz gilt jetzt als Drittland und das bedeutet, dass wir als Forschende keine europäischen Projekte mehr leiten können. Dank einer sehr grosszügigen Förderung durch die Manfred-Stärk-Stiftung können wir zwar eine fortwährende Kollaboration mit der Universität Heidelberg gewährleisten, aber das kann natürlich die Leitung eines europäischen Projekts nicht ersetzen. Darüber hinaus gilt auch die Regel, dass an einem Projekt nicht Forschende aus zwei Drittländern beteiligt sein dürfen. Das ist für uns problematisch, weil wir auch mit Partnern kollaborieren wollen, die nicht in der EU sind.
Schweizer Forschende könnten doch vermehrt Kooperationen mit anderen wichtigen Forschungsnationen wie den USA oder Grossbritannien eingehen?Das ist sicherlich wahr, aber nicht so einfach, denn die Strukturen in der EU sind seit Jahrzehnten gewachsen und funktionieren sehr gut. Neue Kollaborationen mit gleichwertiger Qualität kann man nicht so einfach aus dem Boden stampfen. Das CERN oder das jüngere Human-Brain-Projekt sind Paradebeispiele für langfristig erfolgreiche Strukturen, in denen die Schweiz eine führende Rolle spielt und die viele Fördermittel aus der EU erhalten.
Wie sieht die Zukunft aus?Ich erwarte, dass sich schnell eine Lösung finden wird. Denn es ist allen bewusst, dass die Forschung der EU und der Schweiz sich gegenseitig befruchten und verstärken. Ich denke und hoffe, dass sich diese Einsicht schnell durchsetzen wird.
Medienmitteilung der Universität Bern «Schnelle Informationsverarbeitung mit langsamen Neuronen» vom 10.12.2021
Berner Forschende haben eine Theorie entwickelt, die zeigt, wie das Gehirn extrem schnelle Abfolgen von Sinnesreizen effizient lernen kann. Dies geschieht viel schneller als bisher gedacht, wenn Neuronen (Nervenzellen) über einen Mechanismus verfügen, der ihnen erlaubt, die Zukunft «vorherzusagen». Die Berner Arbeit wurde an der weltweit bedeutendsten Tagung zu Künstlicher Intelligenz unter fast zehntausend eingereichten für eine Präsentation ausgewählt.
Über Mihai A. Petrovici
Mihai A. Petrovici leitet am Institut für Physiologie die Forschungsgruppe Neuro-inspirierte Theorie, Modellierung und Anwendungen (NeuroTMA) sowie zusammen mit Prof. Walter Senn die Computational Neuroscience Group. Petrovici studierte Physik an der Universität Heidelberg und schloss 2015 am Kirchhoff-Institut für Physik seine Dissertation über «Theorie und Modelle für neuronale Substrate» mit dem Prädikat summa cum laude ab. Seit 2016 lehrt und forscht er an der Universität Bern, zuerst als Post-Doc und seit 2020 als Senior Researcher und Gruppenleiter.
DER BERNER BEITRAG ZUM HUMAN BRAIN PROJECT
Das Human Brain Project (HBP) ist das grösste Projekt für Hirnforschung in Europa und gehört zu den umfangreichsten Forschungsprojekten, die jemals von der Europäischen Union finanziert wurden. Das Institut für Physiologie der Universität Bern ist am HBP mit den Gruppen von Dr. Mihai Petrovici und Prof. Dr. Walter Senn beteiligt. 2020 erhielt es dafür einen Förderbeitrag von 2,5 Millionen Euro. Die Gruppen entwickeln theoretische Modelle von Nervenzellen und Netzwerken im Gehirn, welche eine Verbindung zwischen Verhalten, Lernen und den entsprechenden Vorgängen und Veränderungen im Gehirn herstellen. Die Theorien sind auf biophysikalischen Konzepten aufgebaut und erlauben eine Rekonstruktion der biologischen Vorgänge in sogenannter neuromorpher Hardware, also in Computer-Chips, die ähnlich funktionieren wie das Gehirn.
Über den Autor
Matthias Meili ist Wissenschaftsjournalist in Zürich.