«So weiter wie bis anhin geht nicht mehr»
Das World Trade Forum 2021 setzt sich mit den handelspolitischen Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie und der Erforschung einer digitaleren und grüneren Handelspolitik auseinander. Manfred Elsig, stellvertretender Geschäftsführer des World Trade Instituts (WTI), welches das Forum mitorganisiert, äussert sich dazu im Interview.
Herr Elsig, «Die Handelspolitik steht am Scheideweg» ist der Titel des diesjährigen World Trade Forums: Wieso? Welche möglichen Wege gibt es?Wir sehen verschiedenste Trends, welche einen grossen Einfluss haben auf die Ausgestaltung der Handelspolitik. Es sind zum einen strukturelle Veränderungen. Durch die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China wird wiederum Realpolitik wichtiger. Die Handelspolitik lässt sich nicht von Sicherheitspolitik abgrenzen und die Gefahr von Blockdenken nimmt wieder zu. Aber auch Markstrukturen und zunehmende Globalisierung verstärken den Druck wettbewerbsfähiger zu werden, da auch Automatisierung und Outsourcing weiter voranschreiten.
Zum anderen kann sich die Handelspolitik nicht mehr verstecken hinsichtlich Klimaschutz. Es müssen neue innovative Anreize geschaffen werden, welche Liberalisierung und grüne Wirtschaft besser in Einklang bringen. Eine weitere Veränderung ist die Polarisierung und der Aufschwung rechts-populistischer Parteien weltweit, welche die Menschen verunsichern und den Nutzen der Globalisierung hinterfragen. So weiter wie bis anhin geht nicht mehr, wir müssen neue Wege suchen und Altbewährtes hinterfragen.
Welchen Herausforderungen muss sich die Handelspolitik zurzeit stellen?Es gilt zu unterscheiden zwischen den verschiedenen handelspolitischen Prioritäten der Länder einerseits und der internationalen handelspolitischen Zusammenarbeit zum andern. Multilaterale Politik, das heisst die Zusammenarbeit auf Stufe der internationalen Organisationen, wird immer schwieriger aufgrund gegensätzlicher Interessen der wichtigsten Industriestaaten und dem schwelenden Handelskonflikt zwischen USA und China. Die Arbeiten müssen auf der internationalen Ebene weitergehen, bleiben aber zäh. Daher braucht es neue Impulse und Initiativen im regionalen Kontext, in bilateralen Handels- und Investitionsabkommen und auch durch unilaterale Initiativen. Bei all den Initiativen ist es wichtig, dass diese nicht zum Heimatschutz werden, sondern proaktiv negative Auswirkungen der globalen Trends angehen.
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf den Welthandel?Wir haben es noch nicht ausgestanden. Die Lehren aus COVID sind noch zu ziehen, vor allem auch, welches Regierungshandeln langfristig Stellen sichern konnte, ohne den notwendigen strukturellen Wandel aufzuhalten. Natürlich wirkt eine solche Pandemie mit grosser Wucht auf die Realwirtschaft und auf Investitionsentscheidungen. Gerade in vielen Wirtschaftssektoren, welche von regionalen und internationalen Wertschöpfungsketten abhängen, waren teilweise grosse Lieferengpässe auszumachen. Fabriken waren zu, Logistikunternehmungen fehlte Planungssicherheit. Just-in-time-Modelle funktionierten nicht. Es gab einen gleichzeitigen Einbruch der Nachfrage und des Angebots. Demgegenüber hat der digitale Handel massiv zugenommen. Spannend zu beobachten wird es sein, wie Firmen gewisse Lieferketten umstrukturieren, um in zukünftige Krisen besser reagieren zu können. Zurzeit lautet das Modewort hier «Resilience».
Was zeichnet «grünen» Handel aus? Wie, denken Sie, kann der Welthandel zur Green Economy beitragen?Von all den Initiativen, die wir heute vor allem auf nationalstaatlicher Ebene und in der Europäischen Union sehen, wird es darum gehen, dass diese besser koordiniert werden und nicht zum Spielball des Protektionismus werden, wo man sich gegenseitig mit Strafzöllen droht. Als Beispiel wären hier sicherlich Subventionen und marktwirtschaftliche Anreize inklusive Handel mit Verschmutzungszertifikaten zu nennen, um den Ausstieg aus den fossilen Energien zu beschleunigen. Mehr regionale und internationale Koordination wäre hier wichtig.
Andererseits gibt es konkrete und weniger konkrete Vorschläge zu einem Klimazoll, ja sogar einer möglichen Klimazollunion. Da Klimasteuern, vor allem wenn sie unilateral eingeführt werden, häufig die Unterstützung der Bevölkerung fehlt, werden handelspolitische Massnahmen attraktiver. Aber auch die multilaterale Politik muss wieder mehr zu Lösungen beitragen, wie etwa durch strenge Regeln für Fischereisubventionen, aber auch durch Liberalisierungsschritte für grüne und nachhaltige Produkte.
Welche Forschung wird zum digitalen Handel betrieben?Wir untersuchen den digitalen Handel aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Neben der Messung von digitalen Handelsströmen versuchen wir vor allem systematisch Daten zu sammeln, welche Regeln des digitalen Handels existieren und wie sich diese entwickeln. Dies kann auch mithelfen, Modellverträge für regionale und internationale Abkommen anzustossen. Auch im digitalen Handel existieren weiterhin sehr unterschiedliche Ansätze hinsichtlich Liberalisierung des Datenverkehrs, Datenschutz und natürlich geopolitische Ambitionen, da Daten zum neuen «Öl» werden. Unsere Rolle als Forschende ist es, hier die Trends aufzuzeigen und Vor- und Nachteile verschiedener Modelle zu benennen.
Joe Biden fährt bislang mit der restriktiven Handelspolitik seines Vorgängers fort. Was denken Sie, welche Auswirkungen dies auf den Welthandel hat?Grundsätzlich hat sich bis anhin tatsächlich nur der Ton verändert, aber nicht so sehr die Ausrichtung. Obwohl transatlantische Projekte wieder mehr Potenzial haben, hat sich das Arbeitsklima nach dem Abzug aus Afghanistan und dem militärischen Vertrag der USA mit Grossbritannien und Australien nicht viel verbessert. Die Ankündigung, wieder Reisende aus Europäischen Staaten zuzulassen, scheint demgegenüber eine Geste zu sein, um Goodwill zu schaffen. Die USA bleiben sehr stark in der nationalen Politik gefangen, der Fokus bleibt auf dem Schutz und der Entwicklung qualifizierter Arbeitsstellen in strategischen Sektoren. Es bleibt auch abzuwarten, wie der «Green Deal» der Demokratischen Partei genau aussieht und wie er überhaupt umgesetzt werden kann, vor dem Hintergrund der knappen Mehrheitsverhältnisse im US-Kongress.
Ngozi Okonjo Iweala ist seit 2021 Generaldirektorin der World Trade Organization (WTO). Gab es bereits Veränderungen bei der WTO seit ihrem Amtsantritt? Gibt es Hinweise darauf, wie sie die WTO prägen wird?Die WTO wird nicht von Generaldirektorinnen oder Generaldirektoren geprägt, sondern von den Interessen der WTO-Mitgliedstaaten. Sie hat das Amt in der wohl schwierigsten Phase der WTO übernommen. Sie muss in den Hinterzimmern durch Überzeugungsarbeit mithelfen Lösungen zu schmieden. Zu sehr ins Zentrum darf sie sich dabei aber nicht setzen, das wäre kontraproduktiv. Ihr erster wichtiger Test wird die Ministertagung Ende November sein. An Baustellen und Themen fehlt es nicht.
Über Manfred Elsig
Prof. Dr. Manfred Elsig ist Professor für Internationale Beziehungen sowie stellvertretender Geschäftsführer und Forschungsdirektor des World Trade Instituts (WTI) der Universität Bern. Seine Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die Politik des internationalen Handels, regionale Handelsabkommen, europäische Handelspolitik, internationale Organisationen, US-EU-Beziehungen und private Akteure in der Weltpolitik. Aktuell leitet er drei Forschungsprojekte am WTI und ist seit Juli 2020 Teil des Redaktionsteams der World Trade Review.
Über das World Trade Forum
Das World Trade Forum ist eine jährliche Veranstaltung, die gemeinsam vom World Trade Institute (WTI) und dem European University Institute (EUI) in Florenz organisiert wird. Dabei kommen führende Expertinnen und Experten aus Praxis, Wissenschaft, Verwaltung, NGOs, internationalen Organisationen und der Privatwirtschaft zusammen, um aktuelle Themen im Zusammenhang mit dem Welthandelssystem zu diskutieren.
Über den Autor
Pablo Rahul Das leitet die Kommunikationsabteilung des WTI.