«Wir sind alle Teil der Medizin»

Hubert Steinke, Direktor des heute eröffneten Digitalen Medizinmuseums Bern, spricht im Interview über Spitäler im Mittelalter, Medizin als einem immer wichtigeren Teil der Gesellschaft und darüber, wie das Digitale Museum Geschichte und aktuelle Entwicklungen in der Medizin verbindet.

Interview: Nathalie Matter 29. Oktober 2021

Bild aus der Zeit vor den Antibiotika, als das Sonnenbad und das Liegen an der frischen Luft noch zentraler Bestandteil der Tuberkulose-Therapie war. Solarium auf dem Dach der Chirurgischen Klinik 1933. © Medizinsammlung Inselspital Bern
Werfen wir zuerst einen Blick in die Vergangenheit des Inselspitals, das im Mittelalter gegründet wurde. Wie sahen Spitäler damals eigentlich aus?

Das typische mittelalterliche Spital war nicht explizit medizinisch, sondern nahm im Sinne von «Hospital» – das Wort leitet sich vom Lateinischen Hospes, der Gast, ab – auch Arme und Pilger auf, und kann als eine Art Alters- und Pflegeheim bezeichnet werden. Natürlich gab es auch eine medizinische Betreuung, aber keine ärztliche, sondern nur eine rudimentäre Pflege. Das Inselspital hingegen war eine Besonderheit: Im Jahr 1354 stiftete die Gründerin Anna Seiler ein Spital mit 13 Betten, und zwar nur für Kranke. Sobald diese wieder gesund waren, mussten sie wieder gehen. Damit war diese Stiftung die erste rein medizinisch ausgerichtete Institution der Schweiz.

Die Stifterin Anna Seiler, über die man fast nichts weiss, scheint eine «Hands-on»-Frau gewesen zu sein, mit einem Bewusstsein dafür, dass eine gewisse Kontrolle nötig ist. Beispielsweise gibt es in ihrem Testament die Regelung, dass das Spital durch die Berner Regierung geführt werden sollte: Wenn die Regierung das Spital nicht so leiten würde, wie Anna Seiler verfügt hat, sollte das gesamte Stiftungsvermögen an fünf andere Spitäler übergehen. Rückblickend kann man eine solche Spitalstiftung als pionierhaft bezeichnen.

Holzschnitt von Hans Rudolf Manuel (1549). Der Pfeil zeigt auf den damaligen Standort des Inselspitals, das sich im Kloster «St. Michael zur Insel» befand, in der Gegend des heutigen Ostflügels des Berner Bundeshauses. Der Name geht auf den früheren Standort des Klosters auf einer inzwischen verschwundenen Halbinsel in der Aare zurück. © Wikimedia Commons
Was zeigt das neu eröffnete Digitale Museum zur Berner Medizingeschichte?

Das Digitale Museum behandelt primär die Zeit ab 1850, mit Ausnahme der Geschichte des Inselspitals, die weiter zurückreicht. Anhand der Entwicklung des Inselspitals kann man sehen, dass bis in das 19. Jahrhundert lokale Lösungen medizinischer Art vorherrschten, die ab 1850 immer internationaler und standardisierter wurden. Ein Berner Unikum ist die explizite medizinische Ausrichtung des Inselspitals, andere Schweizer Spitäler folgten dem erst später. Ab Ende des 19. Jahrhunderts kam dann mit Theodor Kocher die Medizinaltechnik auf, was auch schön in unserer Ausstellung sichtbar ist. Die Zusammenarbeit des Inselspitals mit der Medizinaltechnik ist ebenfalls charakteristisch für Bern.

In enger Zusammenarbeit zwischen Spital, Universität und Medizinaltechnik entstehen Gesamt-Lösungen für Operationen, die als ganzes Set verkauft werden und neue internationale Standards setzen. Hier dynamische Hüftschrauben des Medizinalherstellers Synthes von 1980. © Medizinsammlung Inselspital Bern
Was verstehen Sie genau unter dem Motto des Digitalen Museums, «Medizin machen»?

Uns allen ist wohl noch zu wenig bewusst, dass wir nicht nur Empfängerinnen und Empfänger der Medizin sind, wenn wir krank werden und behandelt werden. Wir alle sind Teil der Medizin: nicht nur als Patientinnen und Patienten, sondern auch, wenn wir Krankenkassenbeiträge zahlen oder über medizinische Themen abstimmen – wie aktuell bei Corona. Medizin wird ein immer wichtigerer Teil unserer Gesamtgesellschaft.

Eine weitere Perspektive des Mottos «Medizin machen» ist, dass die Medizin, die wir «konsumieren», nicht einfach da ist. Sondern sie besteht auch aus unzähligen tätigen Personen. Das beschreiben wir in der Ausstellung: Medizin als Praxis. Dass auch in der Forschung nicht einfach Resultate da sind, sondern dass ein ganzer Prozess dahintersteht. Oder bezogen auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten, etwa beim Liegen: das Liegen ist nicht nur etwas Passives, sondern auch eine aktive Entscheidung, nämlich dass Patientinnen und Patienten liegen sollen. Früher liess man sie eher liegen, heute soll man rasch wieder aufstehen und sich bewegen. Das alles sind medizinische Praktiken. In der historischen Forschung beschreiben wir frühere Epochen nicht nur durch statische Zustände und Verhältnisse, sondern auch durch Prozesse und Entwicklungen. Dies entspricht auch der Medizin, wie sie heute ist.

Sphygmomanometer oder Blutdruckmessgerät (19. Jhdt), das nach dem sogenannten Riva-Ricci-Prinzip den Blutdruck mittels pneumatischer Armmanschette misst. Das Gerät markiert den Übergang von einer qualitativen, hin zu einer mehr und mehr quantitativen, messenden Medizin. © Medizinsammlung Inselspital Bern
Inwiefern kann man aus der medizinischen Praxis von früher etwas für heute lernen?

Wir lernen dadurch, indem wir Prozessen durchlaufen. Wenn wir Geschichte als etwas Abgeschlossenes betrachten, wird es schwierig, etwas für das heutige Verständnis zu gewinnen. Nehmen wir das Beispiel der Diskussion um Impfungen: Da sind wir mitten in einem Prozess. Zurückschauen hilft für das Verständnis, wir können gewisse Grundstrukturen verstehen. Nicht in einem banalen Sinn, indem wir einfach sagen: es gab schon vor 200 Jahren Impfkritiker, die gibt es heute noch – also ist das dasselbe. Nein, ist es nicht! Aber es gibt gewisse prozessuale Merkmale, die gleich sind: da versucht eine aufgeklärte «Wissenschaftselite» dem nicht ganz so verständigen Volk zu erklären, warum Impfen gut ist. Das läuft etwas einseitig ab. Kritikerinnen und Kritiker als rationale Wesen wahrzunehmen, würde dem gegenseitigen Verständnis helfen. Um 1800 hatten Kritiker durchaus rationale Argumente. Da gibt es gewisse Parallelen zu heute.

Das Digitale Museum ist in 10 Module unterteilt, die mit Verben überschrieben sind. Eines davon ist «Entscheiden». Was steckt dahinter?

Der Hintergrund ist, dass in der Medizin dauernd Entscheide getroffen werden. Von einer einfachen, pflegerischen Ebene bis hin zu einer komplexen Ebene, etwa welche Therapie gewählt werden soll. Das Modul «Entscheiden» fokussiert auf ethische Entscheide. Die Hauptaussage lautet: Entscheide sind nicht immer eindeutig. Es ist nicht immer klar, was richtig und falsch ist. Medizin ist nicht einfach eine Naturwissenschaft. Sie hat sehr viel mit Abwägen zu tun, etwa bei der Wahl eines Medikaments. Das Modul beinhaltet denn auch klassische ethische Konfliktfälle, in denen man Fragen beantworten kann, wie man selber in diesen Fällen entscheiden würde.

Die sogenannte «Schwesterntracht» prägte das Bild der «Krankenschwester» für Jahrzehnte. Bis in die 1980er Jahre wurden teilweise noch Sonntagstrachten getragen, wie sie hier gezeigt ist. Sie waren Ausdruck eines traditionellen Berufsverständnisses, auf das man stolz war. Doch setzte sich relativ rasch eine modernere, funktionelle Berufskleidung durch. © Medizinsammlung Inselspital Bern
Was hat Sie eigentlich bewogen, Medizinhistoriker zu werden?

Ich wollte natürlich zuerst Arzt werden, habe aber gegen Ende des Medizinstudiums realisiert, dass mich übergeordnete, analytische Fragen sehr interessieren. Ich bin eher der intellektuelle Typ, da liegen meine Stärken. Ich fand dann in der Medizingeschichte eine gute Möglichkeit, beides zu verbinden, da es gut ist, neben dem historischen auch einen medizinischen Background zu haben. Das hilft, gewisse Probleme in der Medizin, aber auch die Studierenden besser zu verstehen – was sie bewegt, welche Fragen sie haben – und zu sehen, wie der historische Zugang hier zu einer kritischen Reflexion über die Medizin beitragen kann.

Zuletzt ein Blick in die Zukunft: Was ist Ihre Vision für das Digitale Museum?

Wir wollen eine Plattform sein, die zum kritischen Nachdenken über Medizin anregt und auch auf Aktualitäten reagieren kann. Dass wir aktuelle Themen aufgreifen und dazu auch Inputs geben können und nicht nur rein statisch sind. Was uns auszeichnet: wir schaffen es dank Digitalisierung und trotz limitierter Ressourcen einen öffentlichen Raum zu bespielen und haben mit dem Motto «Medizin machen» einen modernen historischen Zugang.

Über Hubert Steinke

Prof. Dr. med. Dr. phil. hist. Hubert Steinke ist Direktor des Digitalen Medizinmuseums Bern und Direktor des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Medizinische Praxis im 18. bis 20. Jahrhundert, Gelehrtenrepublik und Wissensproduktion im 18. Jahrhundert und Medizin in Bern.

Das Digitale Medizinmuseum Bern

Heute eröffnen das Inselspital und die Universität an einer gemeinsamen Feier das Digitale Medizinmuseum Bern, das erste seiner Art in der Schweiz. Die Sammlung ist in zehn Module gegliedert und setzt sich zum Ziel, ein Nachdenken über die Entstehung und Arbeitsweise der modernen Medizin auszulösen. Das Medizinmuseum umfasst rund 10’000 Exponate vor allem aus der Zeit seit 1900. Sie repräsentieren Tätigkeiten, Behandlungen, Erfindungen und Alltäglichkeiten des Spitalalltages. Das Motto «Medizin machen» gibt der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Exponate eine Denkrichtung vor: Sie zeigen, dass Medizin nicht einfach existiert, sondern gemacht wird. Das Digitale Medizinmuseum Bern geht neue Wege. Nicht Äusserlichkeiten sollen zur Schau gestellt werden, sondern der Dialog mit den Betrachtenden wird betont. So erzählt das Digitale Medizinmuseum kurze Geschichten und Videos, um einen Einblick in die abwechslungsreiche Geschichte der Medizin am Inselspital zu geben und zugleich Fragen und Gedanken bei den Besuchenden auszulösen.

Link zum Digitalen Medizinmuseum Bern (erst ab 17:30h nach der Eröffnung aktiv)
Medienmitteilung des Inselspitals und der Universität Bern zur Eröffnung

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch den uniaktuell-Artikel «Ein Get-together für das kulturelle Erbe im Netz» zu digitalen Sammlungen.

Zur Autorin

Nathalie Matter arbeitet als Redaktorin bei Media Relations und ist Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin» in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

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