Bauern in der Ukraine brauchen Zuversicht, um für Afrika zu produzieren

Die globale Ernährungssicherheit zu verbessern, ist eines der UNO-Nachhaltigkeitsziele. Wie fragil dieses System aber ist, zeigt der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Das Word Trade Institute (WTI) der Uni Bern beobachtet die für Afrika so wichtigen Getreideexporte der Ukraine seit Februar und formuliert Forderungen.

Von Nicola von Greyerz 22. Dezember 2022

Die ukrainische Doktorandin Yuliia Kucheriava essen am World Trade Institute selbst gekochten Borschtsch. © Dres Hubacher

«Unsere Zahlen sprechen eine klare Sprache», sagt Christian Häberli, Lehrbeauftragter am WTI, wenn er auf die Tabellen und Statistiken vor sich auf dem Tisch schaut. Gemeinsam mit einem ukrainischen Spezialisten im Getreidehandel beobachtet er jeden Monat, wie sich der ukrainisch-­afrikanische Getreidehandel aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine verschlechtert hat.

Entstanden ist das neue WTI-Programm nach einem Aufruf der EU-Kommission vom März 2022 an alle EU-finanzierten Forschungsprojekte, den Angriffskrieg in ihre Arbeiten einzubeziehen und ukrainische Forschende in ihre Projekte aufzunehmen. Seit 2021 ist das WTI einer der 14 Partner des von der EU finanzierten Horizon-2020-Programms MATS (Making Agricultural Trade Sustainable). Ziel dieses Programms ist es, Hebelpunkte für Veränderungen in der Agrarhandelspraxis zu identifizieren und zu zeigen, welche positiven und negativen Auswirkungen sie auf die nachhaltige Entwicklung und das von der UNO verbriefte Recht auf Nahrung haben.

Bereits seit vielen Jahren pflegt das WTI einen intensiven Austausch mit der Ukraine und kennt daher deren Institutionen und Handelssysteme gut. Zurzeit arbeitet etwa die ukrainische Doktorandin Yuliia Kucheriava im Projekt. Zudem wurden mehrere Ukrainerinnen und Ukrainer, die in ihrem Heimatland oder in der WTO wichtige Positionen innehaben, am WTI ausgebildet.

Die Datenerhebungen zeigen sehr eindrücklich, wie massiv der Agrarexport der Ukraine, vor allem derjenige über die Schwarzmeerroute nach Nordafrika, unter den Kriegshandlungen leidet. Die Vereinten Nationen befürchten Lebens­mittelknappheit und Hunger in armen Teilen der Welt, wenn die Ukraine als eine wichtige Getreidelieferantin ausfällt.

Handel nicht mehr als Kriegswaffe einsetzen

Bei der dritten Erhebung im August zeigte sich der Einfluss des Abkommens, das Russland und die Ukraine mit den Vereinten Nationen und der Türkei Ende Juli unterzeichnet haben. So konnten im September und Oktober je vier Millionen Tonnen Getreide auf dem Seeweg direkt nach Afrika und dem Mittleren Osten ausgeführt werden. Darunter sind auch Schiffe des Welternährungsprogramms der Vereinigten Nationen. «Mit dem Abkommen konnte erreicht werden, dass der Getreidehandel von Russland vorderhand nicht mehr als Kriegswaffe eingesetzt wird. Das ist ein grosser Erfolg, der auch entsprechend gewürdigt werden muss», sagt Häberli. Am 19. November wurde das Abkommen um 120 Tage verlängert, nachdem Russland verschiedentlich gedroht hatte, dieses auslaufen zu lassen. Die Probleme seien damit aber bei Weitem nicht gelöst.

Es droht das Gefühl der Entmutigung

Die Datenerhebungen des WTI zeigen, dass mit der Wiedereröffnung der Schwarzmeerroute nur ein Teil der ukrainischen Ernte 2021/22 abtransportiert werden konnte. Die Schäden an der Agrar- und der Transportinfrastruktur sind sehr gross, und der Abtransport über andere Wege funktioniert nicht. Auch die Verarbeitung, der Transport und der Konsum im Inland wurden erheblich gestört.

Die Ernte leidet qualitativ, wenn sie zu lange in ungeeigneten Transitlagern liegt – sie kann dann teilweise nur noch als Tierfutter verwendet werden. Dies alles werde laut dem ukrainischen Agrarministerium schon die Aussaat des Wintergetreides 2022/23 beeinträchtigen, erklärt Christian Häberli: «Fehlt den Bauernbetrieben die Zuversicht, dass sie ihre Produkte zu einem vernünftigen Preis verkaufen können, bauen sie weniger an, und der Handel kommt zum Erliegen. Das ist eine grosse Gefahr auch für die Welt­ernährungssicherheit.»

Diese mangelnde Sicherheit kann kurz- und mittelfristig das Problem der Ernährungssicherheit in Afrika verschärfen. Die Weltmarktpreise könnten wieder ansteigen und damit ärmere Konsumentinnen und Konsumenten in Afrika besonders hart treffen. Zudem wird mittel- bis langfristig die Produktion in der Ukraine noch schwieriger, die bisher ohne Subventionen und ohne Unterstützung aus dem Ausland auskam.

Die Ukraine wird heute auch der «Brotkorb Afrikas» genannt. Kann sie diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, springen andere Anbieter ein. Denn: Die Ukraine ist zwar eine wichtige Playerin im globalen Agrarhandel, sie ist aber nicht un­ersetzbar. Einmal verlorene Marktanteile zurückzugewinnen, kann viele Jahre dauern.

© Dres Hubacher

Westen richtet mit Subventionen Schaden an

Die Schwächung der Ukraine als Exportland von Nahrungsmitteln – besonders Mais, Weizen, Gerste und Sonnenblumenöl, aber auch weltweit dringend benötigten Düngemitteln – bringe auch weitere, tiefer liegende Probleme der WTO zutage, betont Häberli: «Die WTO schafft es nicht zu verhindern, dass andere Länder – notabene aus Westeuropa oder Nordamerika –, die aufgrund ihrer Agrarsubventionsstrukturen und Export­risikoversicherungen billiger produzieren können, nun in die Lücke springen». Im Rahmen der sogenannten Doha-Runde forderten die Entwicklungs­länder einen besseren Marktzugang für ihre Landwirtschaftsprodukte, indem das insbesondere durch Industriestaaten betriebene Agrardumping reduziert oder verboten werden soll. Diese Verhandlungen sind jedoch 2008 gescheitert. Seither hat sich diesbezüglich nichts mehr getan.

Es fehle die Bereitschaft, sich zu Massnahmen zu verpflichten, um mit nachhaltigem Agrarhandel die globale Ernährungssicherheit zu stärken, sagt Häberli. So könnte beispielsweise Getreideexportgrossmächten verboten werden, Ausfuhrrestriktionen zu erlassen, und in Importländern könnten heute ungeschützte Kleinbauern gefördert werden, damit die Inlandproduktion steigt.

Sofortiges Handeln gefordert

Die monatlichen Berichte des Berner MATS-Subprojekts finden bei den Behörden und in der ­Agrarbranche in Kiew grosse Beachtung. Vor dem Hintergrund der geschilderten Herausforderungen und gestützt auf seine eigenen Datenerhebungen appellierte das WTI im Juli zudem mit Briefen an die fünf grössten Exporteure von Getreide aus der Ukraine, alle mit Sitz in der Schweiz, sowie im September an die G7-Staaten. Es forderte diese zu verantwortlichem Handeln auf. So müsse die Agrar- und Handelsinfrastruktur in der Ukraine möglichst schnell wiederhergestellt werden. Was es jetzt brauche, sei eine ­Bestandesaufnahme, an der alle Operateure beteiligt sind – Gross- und Kleinbauern, die verarbeitende Industrie wie etwa Müllereien und Ölpressen, Kreditgeber und Versicherer, (Treibstoff-)händler und Transportunternehmen. Nur so könne schnell ein Überblick über das ­Ausmass der Schäden an Transportwegen, Bahnhöfen und Lagermöglichkeiten vor allem in der Nähe der Häfen erstellt werden. Das Forschungsteam empfiehlt eine Gesamtsicht, wo entlang der ganzen Lieferkette welche Bedürfnisse entstanden sind. Nur so könnten die Bauern das ­Risiko der Winteraussaat trotz einem weiter andauernden Krieg schultern. Dazu fordert es ­einen «Masterplan», um die Reparatur der Produktions- und Handelsinfrastruktur effizient und pragmatisch voranzutreiben. Sonst drohten dem grossen Produktionsland Ukraine mit seinen riesigen, fruchtbaren Anbauflächen unwiederbringliche Marktanteilsverluste.

Ein solcher Masterplan wäre – neben der ­Sicherstellung offener und sicherer Transportwege durch das Schwarze Meer – entscheidend für den Wiederaufbau der Ukraine und den Schutz der Ernährungssicherheit in Afrika. «Die ukrainische Landwirtschaft ist nicht wie unsere subventioniert. Die Bauern brauchen jetzt vor ­allem auch Zuversicht und Mut, dass es sich lohnt, wieder zu investieren und zu produzieren», sagt Christian Häberli abschliessend.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 19. November fertiggestellt. Allfällige Auswirkungen des Kriegsgeschehens auf die Situation nach diesem Datum konnten nicht berücksichtigt werden.

Aufruf zum Handeln

Getreide essen statt verfüttern

Die Hälfte des für das UNO-Welt­ernährungsprogramm benötigten Getreides stammte bisher aus der Ukraine. Zudem werden in westlichen Ländern Agrarflächen oft zur Nutztierhaltung oder zur Futterproduktion verwendet – und nicht für den eigenen Lebensmittelanbau. In der Schweiz wird auf einem Grossteil der Ackerflächen Futtermittel angebaut. Trotzdem muss für Schweizer Nutztiere zusätzlich Futtermittel importiert werden. Auch wohlhabende Länder sind also von Importen abhängig.

«Der Angriff auf die Ukraine erhöht nochmals deutlich den Handlungsdruck für eine rasche Transformation des globalen Ernährungs­systems», betont der Politologe Lukas Fesenfeld vom Oeschger Centre for Climate Change ­Research (OCCR) der Universität Bern. Bereits im März forderte ein internationaler Aufruf von mehr als 600 Wissen­schaftlern und Wissenschaftlerinnen eine Transformation des Ernährungs­systems. Kurz darauf initiierte Fesenfeld einen offenen Brief an die deutsche Bundesregierung, der viel Beachtung fand, und formulierte im September in einem Bericht detaillierte Politikempfehlungen.

Die Forschenden erachten es als notwendig, den Fleischverzehr zu vermindern, die Inlandsproduktion von pflanzlicher Nahrung zu steigern und Food Waste zu vermeiden. Dies würde das Ernährungssystem stabilisieren, Abhängigkeiten reduzieren – und es sei dringend notwendig, um die Klimaerwärmung einzudämmen.

Über die Autorin

Nicola von Greyerz arbeitet als Verantwortliche für gesamtuniversitäre Anlässe in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.

Neues Magazin uniFOKUS

Jetzt gratis abonnieren!

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem neuen Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.

Oben