Pathologie
Berner Innovation für die Pathologie der Zukunft
Alessandro Lugli und Miryam Blassnigg vom Institut für Pathologie der Universität Bern haben für ihren Fachbereich eine weltweite Innovation entwickelt: den Pathojet, eine Art medizinisches Cockpit. Im Interview erklären sie, welche Vorteile das Gerät für ihr Fach und die Patientinnen und Patienten bietet.
Was ist der Pathojet?Alessandro Lugli: Er ist ein modernes Arbeitsinstrument, das aus Karbonstahl besteht, mit einem digitalen Mikroskop, einer Steuerung und einem ergonomischen Stuhl. Damit erhalten Pathologinnen und Pathologen ein medizinisches Cockpit, das es ihnen erlaubt, ergonomischer, konzentrierter und mit viel mehr technischen Möglichkeiten als bisher zu arbeiten.
Warum braucht es in der Pathologie dieses neue Instrument?Alessandro Lugli: In der Pathologie befassen wir uns mit der Entstehung und Diagnose von Krankheiten. Wir machen Gewebemedizin: unter anderem analysieren wir Biopsien und Präparate aus Operationen, also Gewebeproben, um den Kolleginnen und Kollegen in der Klinik eine optimale Patientenversorgung zu ermöglichen.
Dabei arbeiten wir zu 95 Prozent unserer Zeit am Mikroskop. Wir müssen sehr fokussiert bleiben, denn von unserer Diagnose hängt die weitere Behandlung der Patientinnen und Patienten ab. Diese Arbeit ist anstrengend, auch wegen der schlechten Ergonomie. Nach jahrelanger Arbeit am Mikroskop haben Pathologinnen und Pathologen häufig ergonomische Probleme und müssen in die Physiotherapie, was mit hohen Folgekosten verbunden ist. Die Arbeitsgesundheit unserer Mitarbeitenden zu verbessern ist ein Faktor, warum wir den Pathojet erfunden haben. Ebenso wichtig ist aber der Kulturwandel, in dem sich unser Fach befindet.
Welchen Kulturwandel meinen Sie?Alessandro Lugli: In der Pathologie haben wir es mit Digitalisierung zu tun, mit Automatisierung, aber auch mit molekularer Biologie – all dies beeinflusst uns immer stärker. Nun kann man dies als «apokalyptische Reiter» sehen, die unsere Arbeit bedrohen und gewohnte Arbeitsinstrumente wegnehmen, oder als Chance.
Ich habe schon früh gesagt: das bringt einen riesigen Kulturwechsel, darauf müssen wir vorbereitet sein. Wir haben die Wahl: entweder wir lassen uns von aussen diktieren, wie wir künftig zu arbeiten haben, oder wir gestalten diesen Wandel kreativ mit. Wir haben uns entschieden mitzubestimmen, wie die Pathologie der Zukunft aussehen soll. Dies ist die Philosophie hinter dem Pathojet.
Miryam Blassnigg: Anstatt von der Digitalisierung einfach überrannt zu werden und Mikroskope durch Computer, Tastatur und Maus zu ersetzen, und sich von der IT und Industrie alles vorgeben zu lassen, erneuern wir die Pathologie von innen her und gestalten einen digitalen Arbeitsplatz, der unseren Bedürfnissen entspricht. Hinzu kommt der Platz- und Kostenpunkt: Anstelle eines grossflächigen Arbeitsplatzes mit mehreren Computern, Bildschirmen und anderen Geräten vereint der Pathojet sehr vieles auf kleinem, ergonomisch gestaltetem Raum – und ist erst noch kostengünstiger.
Wie wird das neue Instrument die Arbeit der Pathologinnen und Pathologen verändern?Alessandro Lugli: Abgesehen von der besseren Ergonomie und Konzentration wird es vor allem im Bereich der Digitalisierung einen grossen Vorteil bringen. So haben auf dem grossen Monitor mehrere Bildschirmoberflächen Platz. Das ermöglicht eine viel bessere Übersicht und Fokussierung.
Wir können beispielsweise nebeneinander digitale Gewebeproben analysieren, einen Bericht dazu verfassen und bei besonders schwierigen Fällen beispielsweise einen spezialisierten Kollegen aus dem Ausland per Videocall hinzuziehen, um sich eine Gewebeprobe zusammen anzuschauen und seine Einschätzung einzuholen. Gerade von letzterem profitieren unsere Patientinnen und Patienten enorm, da sie rasch und kompetent eine Zweitmeinung erhalten, die für die definitive Diagnose wichtig ist.
Ich bin überzeugt, dass das Gerät auf grossen Anklang stossen wird. Institutsintern sind die leitenden Ärztinnen und Ärzte sowie unsere Oberärztinnen und Oberärzte begeistert, haben schon tausend Ideen für den Einsatz – das ist ein sehr gutes Zeichen. Auch diejenigen, die erst skeptisch waren, sind nun voll davon überzeugt. Das zeigt uns, dass sich der Pathojet durchsetzen wird. Das Gerät erinnert mit seiner Struktur etwas an ein Alien. Wie kam es zu seiner Form?
Miryam Blassnigg: Es erinnert vielleicht auch etwas an eine Wirbelsäule oder einen Skorpion, also etwas Bewegliches – es kommt aus dem Gaming-Bereich. Ich habe nach einem Sitz gesucht, in dem Leute viel und lange sitzen, und stiess dann auf Gaming-Stühle und Flugsimulatoren. Schliesslich fand ich dieses Gerät einer kanadischen Technologie-Firma, das mich durch sein Aussehen und seine Möglichkeiten sehr angesprochen hat. Wir haben das Gerät dann getestet und fanden: das passt für unsere Bedürfnisse und ist auch von der Ergonomie her perfekt.
Wie hat die Technologie-Firma auf Ihre Anfrage reagiert?Miryam Blassnigg: Sehr motiviert – sie hat sich stark ins Zeug gelegt, um mit uns zusammen einen Prototypen zu entwickeln.
Wie kamen Sie auf den Namen «Pathojet»?Alessandro Lugli: Ich wurde inspiriert vom Fliegen und hatte die Vorstellung von Pathologinnen und Pathologen, die wie Aufklärungspiloten aus der Vogelperspektive über Gewebe «fliegen» und schauen, wo die Gefahr ist – also Krebszellen oder andere krankheitsverursachende Zellen suchen. Dies tun sie, indem sie die Zellen im Mikroskop vergrössern, das heisst: sie gehen im Tiefflug runter. Deshalb fand ich: Pathologie und Fliegen ergibt den Pathojet. Wie wurden Sie bei der Entwicklung unterstützt?
Alessandro Lugli: Der Anfang war nicht einfach. Die Idee zu einem Gerät, das uns bereit macht für die Pathologie der Zukunft, hatte ich schon vor sieben oder acht Jahren. Das Problem war: normalerweise kommt jeweils die Industrie auf uns universitäre Institute zu und will irgendetwas. Dieses Mal war es umgekehrt: Wir hatten die Idee, ich habe dann jemanden für die Umsetzung gesucht, aber niemand hat daran geglaubt! Ich musste bis 2020 warten, als sich jemand aus der Industrie bereit erklärte, das mit uns umzusetzen.
Miryam Blassnigg: Die universitäre Technologietransfer-Organisation Unitectra hat uns sehr stark unterstützt und darauf geachtet, dass alles Uni-konform ist, vor allem in Bezug auf die Registrierung des Pathojets als Trademark, also als geschützte Marke. Uni-intern stiessen wir ebenfalls auf Begeisterung und viel Unterstützung.
Was erfinden Sie beide als Nächstes?Alessandro Lugli: Da muss man ehrlich sagen: Weniger ist mehr. Wie schon erwähnt, stehen wir erst am Anfang eines Kulturwandels. Wir als Vorgesetzte müssen unsere Mitarbeitenden darin unterstützen und begleiten. Das ist ganz wichtig. Jeder Kulturwandel bringt Unsicherheit und Ängste mit sich. Ich investiere nun meine Energie in meine Mitarbeitenden, denn wir werden mit dem Pathojet in unserem Arbeitsalltag nicht nur die Digitalisierung einbinden, sondern auch die Künstliche Intelligenz, mit der sich zum Beispiel die Wachstumsrate von Tumoren quantitativ bestimmen lässt.
Zudem sind die Möglichkeiten des Pathojets noch lange nicht ausgeschöpft: er ist auch für Studierende sehr attraktiv. Die Pathologie ist ein visuelles Fach. So könnte zum Beispiel ein Hörsaal mit einem Pathojet ausgestattet werden, und die Dozentin kann den Inhalt des Monitors projizieren, Gewebeproben auf viele Arten darstellen und 1:1 die Arbeit damit demonstrieren, statt sich in einer statischen Vorlesung durch Bilder zu klicken. Wir zeigen mit diesem Gerät unseren Studierenden auch: das Fach bleibt nicht stehen, es entwickelt sich weiter.
Miryam Blassnigg: Es wird auch interessant sein zu sehen, was sich entwickelt, wenn Pathologinnen und Pathologen weltweit bei uns Auskünfte einholen oder den Pathojet testen wollen. Zudem können Interessierte aus anderen medizinischen Bereichen zusammen mit dem Hersteller ähnliche Geräte produzieren, worauf wir dann Erfahrungen austauschen können.
Der Pathojet wurde entwickelt, um einerseits das herkömmliche stark ermüdende, stundenlange Arbeiten am Mikroskop zu ersetzen, und andererseits den Anforderungen der Pathologie der Zukunft gerecht zu werden. Die einzelnen Geräte lassen sich beim Hersteller individuell zusammenstellen und kosten je nach Ausführung weniger als die bisherigen zentralen Arbeitsinstrumente, die Doppelmikroskope. Die Innovation ist als Trademark der Universität Bern registriert. Im Bereich der Pathologie ist dieses Gerät das erste seiner Art weltweit. Prof. Dr. med. Alessandro Lugli ist seit 2011 Extraordinarius für Tumorpathologie und seit 2021 Chefarzt für Gastrointestinale Pathologie am Institut für Pathologie an der Universität Bern.
Kontakt Miryam Blassnigg ist Direktionsassistentin der Direktion am Institut für Pathologie der Universität Bern und Projektleiterin bei der Entwicklung des Pathojets.
Kontakt Nathalie Matter arbeitet als Redaktorin bei Media Relations und ist Themenverantwortliche «Gesundheit und Medizin» in der Abteilung Kommunikation & Marketing der Universität Bern. Die Universität Bern betreibt Spitzenforschung zu Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen und unsere Zukunft prägen. Im uniAKTUELL zeigen wir ausgewählte Beispiele und stellen Ihnen die Menschen dahinter vor – packend, multimedial und kostenlos.Weltweit einzigartig
Über Alessandro Lugli und Miryam Blassnigg
Alessandro Lugli
Über die Autorin
Das Online-Magazin der Universität Bern
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